06.05.2008

Irak: Der irakische Exodus

Von Hans-Christian Rößler

Irak: Der irakische Exodus

Von Hans-Christian Rößler

16. April 2008 Die Redakteure hatten nur das Fragezeichen vergessen. In Eilmeldungen des irakischen Senders „Iraqia“ hieß es in der vergangenen Woche, Deutschland werde irakische Flüchtlinge aufnehmen. Schon am nächsten Morgen drängten sich die ersten Iraker vor der deutschen Botschaft in Bagdad in der Hoffnung, die begehrte Einreiseerlaubnis zu erhalten.

Doch in Berlin diskutierten deutsche Politiker zu diesem Zeitpunkt noch darüber , was erst jetzt Wirklichkeit zu werden scheint.

Pfarrer Emanuel Youkhana müsste eigentlich erleichtert darüber sein, dass sich besonders für die bedrohten Christen die Türen einen Spalt breit öffnen. Mitt dem „Christian Aid Program“versucht der Geistliche der Assyrischen Kirche des Ostens ddenjenigen zu helfen, die von mordenden islamistischen Terroristen bedroht werden. „Am ersten Tag werden zehn Familien kommen, am nächsten hundert, und bald werden es tausend sein. Indirekt trägt Deutschland damit zum Verschwinden der Christen aus dem Irak bei. Genau das wollen die Terroristen“, befürchtet er.

 

Flucht der ältesten religiösen Minderheiten

Seine Sorge teilen auch andere irakische Politiker. „Wenn sie erst einmal in Deutschland sind, sind sie für den Irak verloren. Sie werden nie mehr in ihre alte Heimat zurückkommen“, erwartet Emanuel Khoshaba. Der christliche Politiker aus dem nordirakischen Dohuk ist stellvertretender Generalsekretär der Assyrischen Patriotischen Partei.

 

Aber der Exodus der Christen und anderer Minderheiten, die zu den ältesten auf der Welt gehören, ist nicht mehr aufzuhalten. Als im März vor fünf Jahren die amerikanisch geführte Militärinvasion im Irak begann, lebten nach Schätzungen westlicher Diplomaten in Bagdad noch knapp eine Million Christen im Land. Heute sind es nur noch knapp halb so viele. Aus der größten Gruppe unter den Christen stammen auch die meisten Flüchtlinge: Nach Zahlen der Gesellschaft für bedrohte Völker lebten 2003 noch etwa 650.000 Assyro-Chaldäer im Irak.

 

 Im Visier der Terroristen

 

Drei Viertel von ihnen haben seitdem ihre Heimat, das Zweistromland, in dem sie Assyrer, Babylonier und Aramäer zu ihren Vorfahren rechnen, verlassen. Als „Spione“ und fünfte Kolonne der ausländischen Truppen aus dem(christlichen) Westen trifft sie der unerbittliche Hass islamistischer Terroristen. Daran änderte auch die verbesserte Sicherheitslage der

vergangenen Monate nichts: „Sie bleiben die am stärksten gefährdeten Iraker“, sagen auch westliche Diplomaten in Bagdad.

 

Trauer nach Attentat auf den orthodoxen Priester Youssed Adel Anfang April in Bagdad

Die Nachrichten, die Tag für Tag aus dem Irak kommen, sprechen für sich. Anfang April wurde ein syrisch-orthodoxer Priester in Bagdad ermordet, nachdem man im März den chaldäisch-katholischen Erzbischof von Mossul tot aufgefunden hatte. Paulos Faradsch Raho hatten radikale Muslime im Februar entführt. Viel größer ist die Zahl unbekannter Opfer, die in

keiner Statistik Erwähnung finden. Mord, Vertreibung und Anschläge auf Kirchen gehen weiter - selbst betagte Nonnen und Kleinkinder werden von den Tätern nicht verschont, die sich zu dem oft noch am Besitz der Christen bereichern.

Mit Autobomben gegen Christen, Jeziden, Mandäer

Von den christlichen Bewohnern des Bagdader Stadtteils Doura verlangten Islamisten im vergangenen Frühjahr zunächst, „Schutzgeld“ zu entrichten, später zudem den Übertritt zum Islam. Schließlich ließen sie mehr als hundert Familien nur fliehen, nachdem sie ihren ganzen Besitz zurückgelassen hatten.

Kaum besser ergeht es den anderen nicht-christlichen Minderheiten im Irak. Am härtesten traf es im vergangenen Sommer die Yeziden, eine Jahrtausende alte Glaubensgemeinschaft, die weder christlich noch muslimisch ist. Am 14. August 2007 explodierten unweit von Sindjar mehrere Autobomben und töteten mehr als 350 Yeziden. 550 Tote beklagt die Religionsgruppe, die im Irak etwa eine halbe Million Mitglieder zählt, allein in den vergangenen zwei Jahren. Viele von ihnen sind geflohen. In Deutschland leben mittlerweile 45.000 Yeziden.

 

In ihrem Überleben bedroht sehen sich im Irak längst auch die Mandäer, die ihre Ursprünge auf Johannes den Täufer zurückführen, sich aber nicht als Christen verstehen. Am 27. Februar beschossen zum Beispiel islamistische Terroristen in der Nähe von Kut im Südirak das Haus einer mandäischen Familie mit einer Rakete: Zehn Menschen kamen um, das jüngste Opfer war

gerade eineinhalb Jahre alt. „Es ist ein weiteres verheerendes Signal für unsere Leute, das die Ausreise beschleunigen könnte. Die mandäische Sprache wird schon von niemandem mehr gesprochen. Eine der ältesten ethnischen Religionen der Welt stirbt aus“, klagt Sattar Jabbar Rahman vom Mandäischen Rat. Vor fünf Jahren lebten nach Schätzungen im Irak noch etwa 30.000 Mandäer, heute sind es noch 5000; allein nach Deutschland flohen 1200 Mandäer.

 

Umsiedlung als einzige Lösung?

In der Flucht sieht jedoch Sattar Jabbar Rahman nicht die beste Lösung: Natürlich müsse die zivilisierte Welt verhindern, dass die Mandäer ausgerottet werden, und denen beistehen, die sich außerhalb des Iraks in Sicherheit gebracht haben. Genauso wichtig ist es ihm aber, dass sie weiterhin eine Zukunft in ihrer angestammten Heimat haben. So sehen es auch Vertreter praktisch aller irakischer Minderheiten: Eine Umsiedlung zum Beispiel nach Deutschland sei allenfalls eine „kurzfristige Lösung“, äußerten Chaldäer wie Yeziden jetzt auf einer Tagung der deutschen Gesellschaft für bedrohte Völker und der Friedrich-Naumann-Stiftung in Frankfurt.

Pfarrer Youkhana und Emanuel Khoshaba von der Assyrischen Patriotischen Partei halten es für sinnvoller, christlichen Flüchtlingen in den Nachbarländern Syrien und Jordanien stärker beizustehen, wohin die meisten von ihnen geflohen sind. Gleichzeitig sollten Länder wie Deutschland im Nordirak mehr tun, damit Christen und andere Minderheiten dort wieder sicher leben und Flüchtlinge zurückkehren können. Solche Forderungen hat sich mittlerweile auch die Gesellschaft für bedrohte Völker zueigen gemacht. Noch vor einem Jahr hatte der Göttinger Menschenrechtsverein die Aufnahme von mehreren zehntausend Kontingentflüchtlingen gefordert; jetzt verzichtet er auf Zahlenangaben.

 

Auf Schlepper angewiesen

„Wir sind hin- und hergerissen. Man sollte diejenigen nach Deutschland hereinlassen, die dorthin vor Bedrohung fliehen. Gleichzeitig sollte man auch im Irak Möglichkeiten schaffen, dass die Menschen bleiben können, und gezielt Minderheiten helfen“, sagt der Nahost-Referent der Gesellschaft für bedrohte Völker, Kamal Sido. In Göttingen empfiehlt man Bundesregierung

und EU, ein Entwicklungsprogramm für christliche Flüchtlinge in der kurdischen Autonomieregion im Irak sowie in der angrenzenden - von kurdischen und christlichen Sicherheitskräften geschützten - Niniveh-Ebene zu unterstützen. Dort sei es relativ ruhig, aber man sei damit überfordert, die bisher etwa 120.000 christlichen Flüchtlinge aufzunehmen.

 

Harald Dörig will dagegen den bedrängten Irakern die Entscheidung selbst überlassen. Der Richter am Bundesverwaltungsgericht im Senat für Asylrecht hat im vergangenen Herbst die wichtigsten Aufnahmeländer der irakischen Flüchtlinge im Nahen Osten besucht. „Wir müssen bedrohten Christen im Irak die Entscheidungsfreiheit lassen, ob sie bleiben oder das Land verlassen wollen. Ihnen muss ein Weg der legalen Ausreise ermöglicht werden. Andernfalls sind sie auf kriminelle Schlepper angewiesen.“

 

In Deutschland sieht der Richter für die irakischen Christen grundsätzlich gute Integrationschancen. Bei der Auswahl könnten auch besonders gesuchte Berufe und private Anknüpfungspunkte eine Rolle spielen. Eine Kontingentlösung sei überdies nichts Neues: Deutschland habe schon Anfang der achtziger Jahre 35.000 vietnamesische Bootsflüchtlinge und in den neunziger Jahren mehr als 345.000 bosnische Kriegsflüchtlinge aufgenommen.

Text: F.A.Z.