02.01.2011
Ägypten: Christen fühlen sich nicht mehr sicher
Noch nie gab es in Ägypten ein Attentat wie das von Alexandria. Die Christen dort spüren eine wachsende Feindseligkeit - und gehen auf die Straße.
Martin Gehlen aus zeit.de
"Herr erbarme dich unser", singen sie immer wieder. "Herr erbarme dich", während draußen dunkel die Glocken läuten. Durch die offenen Fenster weht die kühle Morgenluft einen fauligen Gestank herein. Tiefe Wolken hängen am Sonntagmorgen über der ägyptischen Hafenstadt Alexandria. Im Inneren der koptischen Allerheiligenkirche im Stadtteil Sidi Bechr riecht es nach Blut.
An der Fassade des weißen Gotteshauses kleben immer noch kleine Fleischfetzen. Kratzend und klirrend hört man ein halbes Dutzend Straßenfeger in beigen Overalls Scherben und Trümmer in der Khalid Hamada Straße zusammenkehren. Die sechs verkohlten Autos sind inzwischen weggeschafft, ein schwarzer Honda mit zerborstener Windschutzscheibe steht in der Garage der Pfarrei.
Alle Zufahrtsstraßen sind durch dichte Kordons von Sonderpolizei abgeriegelt. In Sichtweite des Gotteshauses stehen mehrere schwarze Hundertschaften in Dreierreihen stramm, während sich ihre Offiziere zusammen mit Geheimpolizisten in Grüppchen die Füße vertreten.
Nur 200 Beter haben sich zur Frühmesse vor dem Altar versammelt, um den vierten Advent zu feiern. Getragen und ruhig breiten sich die liturgischen Gesänge der vier koptischen Pfarrer aus, immer wieder unterbrochen von Schluchzen und lautem Wehklagen. Weihrauch wabert durch das kalte Kirchenschiff. Männern rinnen die Tränen über das Gesicht. Die wenigen jungen Besucher sitzen mit gesenkten Köpfen in den Holzbänken. Sie können immer noch nicht fassen, was ihnen und ihren Familien mitten in der Nacht zu Samstag zugestoßen ist.
Das Neue Jahr 2011 war gerade eine halbe Stunde alt, da verwandelte sich der Vorraum zur Straße mit dem hohen Eisenportal in ein tödliches Inferno. Gerade hatten die koptischen Seelsorger die 1000 Gottesdienstbesucher mit allen guten Wünschen entlassen. Frohgelaunt strömten die ersten Familien ins Freie, als der Attentäter seine offenbar in einem Auto versteckte Bombe zündete. Sekunden später lagen Leichen in ihrem Blut, dazwischen abgerissene Körperteile und Kleiderfetzen. Verletzte schrien vor Schmerzen. Scherben, und Trümmer überall – Bilder, wie sie die ägyptische Bevölkerung bisher nur aus Bagdad kannte.
Viele der 80 Verwundeten wurden im benachbarten Sankt Markus Hospital versorgt, einige Schwerverletzte sogar per Hubschrauber nach Kairo verlegt. Für 21 Gläubige jedoch kam jede Hilfe zu spät. Ihre Körper wurden für den Rest der Nacht im Inneren der Kirche aufgebahrt, die Hälfte von ihnen bereits am Samstagabend im 70 Kilometer entfernten Menas-Kloster beerdigt. "Nein, nein, nein" schrien die über 5000 Trauergäste, als ein Regierungsvertreter versuchte, das Beileidstelegramm von Staatspräsident Hosni Mubarak zu verlesen.
"Die Attentäter kommen nicht aus Afghanistan oder Pakistan, die sind von hier", sagt der Rentner Kamil Issa, der in der Vorhalle die koptische Kirchenzeitung "Unser Land" verkauft. Der 63-Jährige ist lange auf einem griechischen Frachter zur See gefahren. Seine Frau ist gestorben, jetzt arbeitet er ehrenamtlich in der Gemeinde mit und lebt fünf Minuten entfernt in einer kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung. "Wir können keine Kirchen bauen, wir können nicht frei unseren Glauben leben. Man macht uns unseren Platz in der ägyptischen Gesellschaft streitig", mischt sich ein junger Mathematiklehrer ein, der nur seinen Vornamen Michael nennen will. Er und seine Familie entkamen der Bombe nur, weil seine Frau Sekunden vor der Explosion doch noch einmal in das Kirchenschiff zurückging, um für die einjährige Tochter eine Kerze anzuzünden. "Gott hat uns das Leben gerettet", sagt der 32-Jährige, während seine Augen nervös flackern.
Auf der Intensivstation des Sankt Markus Hospitals nebenan liegt Eman Ibrahim. Ihre Augen sind geschlossen, das Gesicht der Mutter zweier Kinder entstellt von Schnittwunden. Die 45-Jährige will mit niemandem mehr sprechen, sagen die Ärzte. Bisher haben sie es nicht gewagt, ihr zu sagen, dass ihr Mann nicht mehr am Leben ist. Der Sohn liegt mit amputiertem Bein in einer anderen Klinik. Nur die Tochter blieb unverletzt.