17.01.2011
Weltweit: Christen werden wegen ihrer Religion verfolgt
Artikel von Jan Roß zum Thema Märtyrer
100 Millionen Christen werden wegen ihrer Religion verfolgt. Die Morde an den ägyptischen Kopten und ein Kinofilm in Europa erinnern an das Leiden für den Glauben.
Nicht der Mord ist die äußerste Provokation, sondern das Opfer. Dass Fanatiker im Namen des Glaubens töten, ist zur schrecklichen Normalität geworden; in den Augen vieler definiert die brutale Intoleranz schon fast das Wesen der Religion. Aber, umgekehrt, wegen des Glaubens, für den Glauben getötet zu werden, wie es den Kopten in Alexandria oder Ende Oktober einer christlichen Gottesdienstgemeinde in Bagdad geschehen ist – das führt in eine viel geheimnisvollere, uns vielleicht schon ganz unverständliche Welt. Der Märtyrer, der »Blutzeuge«, der für das Bekenntnis sein Leben hingibt, gehört zum Ur- und Kernbestand des Christentums. »Selig seid ihr, wenn euch die Menschen um meinetwillen schmähen und verfolgen«, sagt Jesus in der Bergpredigt zu seinen Jüngern. Und eine alte christliche Weisheit lautet: »Das Blut der Märtyrer ist der Same der Kirche.«
Diese sehr fremde Welt ist plötzlich in die Gegenwart eingetreten. Jahrelang war »Christenverfolgung« ein Thema, das niemanden interessierte. Jetzt, nach dem Attentat von Alexandria, ist es (für einen Augenblick) zum Großpolitikum geworden. Frankreichs Staatspräsident Sarkozy warnt vor einer religiösen »Säuberung« des Mittleren Ostens und nennt die Opfer von Alexandria und Bagdad »Märtyrer« – zwar laizistisch korrekt »Märtyrer der Gewissensfreiheit«, aber natürlich ist er sich der sakralen Untertöne des Wortes voll bewusst.
Ausgerechnet zur selben Zeit ist in den Kinos der Film Von Menschen und Göttern zu sehen (ZEIT Nr. 50/10), die Geschichte einer Gruppe französischer Trappistenmönche, die 1996 aus ihrem Kloster im algerischen Atlasgebirge verschleppt und ermordet wurden, wahrscheinlich von Islamisten. Den äußerlich sperrigen und unspektakulären Film haben in Frankreich mehr als drei Millionen Zuschauer gesehen. Man kann ihn auch in Deutschland in voll besetzten Kinosälen anschauen, in Gesellschaft eines atemlosen, gerührten Großstadtpublikums. Leuten, die lange nicht mehr in der Kirche, geschweige denn beim Abendmahl waren, kommen die Tränen, wenn die Mönche mit zwei Flaschen Rotwein und unter den Klängen von Tschaikowskys Schwanensee- Musik aus dem Kassettenrekorder ihr Abschiedsessen vom Leben zelebrieren. Was ist das für eine seltsame Faszination, die das Martyrium auf einmal ausübt?
Die Identifikation mit dem Leiden von Christen ist nämlich im Westen keineswegs selbstverständlich. Im Gegenteil: Es fällt uns schwer, Christen als Opfer, das Christentum als Opferreligion zu sehen. Die Organisation Open Doors veröffentlicht Jahr für Jahr einen Weltverfolgungsindex, der das Schicksal von Christen von Nordkorea bis zu den Malediven verzeichnet; 100 Millionen Gläubige, so die Schätzung der Verfasser, werden weltweit wegen ihrer religiösen Überzeugung drangsaliert. Doch dringen diese Zahlen nicht ins Bewusstsein durch. Das vorherrschende Bild ist anders, kritisch und selbstkritisch, es sieht das Christentum im Bund mit der Macht, nach historischem Muster: Inquisition, Diskriminierung der Juden, Bündnis von Thron und Altar. Das Christentum erscheint immer noch als Religion des Imperialismus, als Glaube, den die Kolonisatoren über die Welt verbreiten wollten, und in den westlichen Gesellschaften selbst hat man nicht vergessen, dass Aufklärung und Geistesfreiheit gegen den teils erbitterten Widerstand der Kirche erstritten werden mussten. Das Christentum ist irgendwie »oben«, offiziell, Establishment; man stellt es sich nicht leicht als schwach und bedroht vor.
Aber das Bild vom Establishment-Christentum stimmt nicht länger. Selbst die katholische Kirche, die am zähesten an ihren Herrschaftsansprüchen festgehalten hatte, hat sie inzwischen aufgegeben. Auf dem 2. Vatikanischen Konzil hat sie 1965 die Religionsfreiheit anerkannt und spätestens seit Papst Johannes Paul II. auch die Menschenrechte der Andersgläubigen kraftvoll vertreten. Christen haben den Unrechtsregimen des 20. Jahrhunderts keineswegs massenhaft heroisch widerstanden. Trotzdem haben viel mehr Gläubige als in den Epochen davor für ihren Glauben mit ihrem Leben bezahlt – Opfer von KZ und Gulag, von Militärdiktaturen und politisch-kriminellen Mafias. In der Kirche San Bartolomeo auf der Tiberinsel in Rom kann man in den Seitenkapellen Zeugnisse dieser Verfolgungsgeschichte sehen, Reliquien der neuen Märtyrer des 20. Jahrhunderts – das Messbuch des salvadorianischen Erzbischofs Óscar Romero, der 1980 von rechten Todesschwadronen am Altar seiner Kathedrale ermordet wurde, oder ein Kreuz aus dem kommunistischen Albanien, in dem seit 1967 jeglicher Gottesdienst, selbst in Privaträumen, verboten war, als Verbrechen gegen den ersten atheistischen Staat der Welt. Auch einen Brief von Christian de Chergé, einem der ermordeten Trappistenmönche aus dem Kloster im Atlasgebirge. Zum ersten Mal seit dem Beginn seines historischen Siegeszugs in der Spätantike hat das Christentum Züge der urchristlichen Kleinheit und Verletzlichkeit wiedergewonnen.
Gemischte Gefühle löst es aus, wenn das Märtyrer-Motiv nun in den Zusammenhang der Islamdebatte tritt. Wäre Von Menschen und Göttern auch so erfolgreich, wenn die Mönche nicht von radikalen Muslimen umgebracht worden wären, sondern von fanatischen Hindus (in Indien keine Seltenheit) oder von mexikanischen Drogenhändlern? Wenn Europa nicht vom Streit über Kopftücher, Minarette und Moscheen widerhallen würde? Ist der Kinobesuch eine Art ästhetischer Sarrazin-Lektüre? Man soll die Wahrheit nicht verschweigen, dass der militante Islamismus eine singuläre Gefahr für Bekenntnisvielfalt und Religionsfreiheit darstellt. Es gibt keine vergleichbar mächtige intolerante und gewalttätige Strömung im zeitgenössischen Christentum. Es wirden auch keine militärischen Interventionen, keine »heiligen Kriege« westlicher Mächte zum Schutz von Glaubensbrüdern im Nahen und Mittleren Osten stattfinden. Vor einer Neuauflage der Kreuzzüge muss man keine Angst haben; es ist reine Propaganda, wenn islamische Radikale die US-Truppen im Irak oder in Afghanistan als »Kreuzzügler« bezeichnen. Aber religiöse Begriffe haben ihre eigene Kraft und Gefährlichkeit. Wer Terroropfer »Märtyrer« nennt, zapft damit Energiequellen an, die dem säkularen Westen sonst verschlossen sind – und dem Konflikt neuen Brennstoff zuführen mögen.
Die spirituelle Aufrüstung einer europäischen Mehrheitsgesellschaft, der das Christentum sonst ziemlich gleichgültig geworden ist und die es nur als Waffe gegen den Islam hervorholt, wäre der schlimmste Gebrauch, der sich von den Leidensgeschichten im Orient machen ließe. Man wird kaum behaupten, dass Nicolas Sarkozy gegen solche Versuchungen völlig gefeit wäre, und vielleicht sind es nicht einmal die Kinogänger in Berlin-Kreuzberg. Der Papst jedenfalls hat die Anschläge von Bagdad und Alexandria (wie auch das diskriminierende pakistanische »Blasphemiegesetz«) zwar scharf verurteilt – schärfer, als sein Vorgänger Johannes Paul II. sich mit dem radikalen Islam auseinanderzusetzen pflegte. Doch hat sich Benedikt XVI. dabei strikt an die Berufung auf die Religionsfreiheit, dieses liberale Kernrecht, gehalten. Das Wort »Märtyrer« hat der Papst nicht in den Mund genommen.
Man darf das Martyrium nicht politisch instrumentalisieren. Die Mönche im Atlasgebirge verstanden sich nicht als Vorposten der westlichen Zivilisation, sie waren nicht einmal christliche Missionare, die ihren Glauben verbreiten wollten. Sie lebten einfach dort unter den mehrheitlich muslimischen Algeriern, feierten Gottesdienst, trieben Landwirtschaft und behandelten die Kranken des Dorfs. Das war ihr »Zeugnis«, das sie nicht preisgeben konnten und für das sie im Ernstfall ihr Leben zu opfern bereit waren.
Ihr Verhältnis zum Islam war gerade nicht konfrontativ, sondern brüderlich: Auf dem Tisch von Christian de Chergé lag der Koran neben der Bibel, und noch in seinem Abschiedsbrief bekennt er seine Liebe zu Land und Leuten, ihre Religion eingeschlossen. Die katholische Laiengemeinschaft Sant’Egidio, die in der Kirche auf der Tiberinsel die Zeugnisse der Märtyrer des 20. Jahrhunderts (und zunehmend auch des 21.) sammelt, hat sich besonders im Religionsdialog einen Namen gemacht, durch eine Serie von Friedensgebeten, zu denen sich seit 1986 Christen, Muslime, Juden, Buddhisten, Hindus, Schintoisten versammeln. Das Martyrium ist Selbstbehauptung, vielleicht die höchste und subtilste: Selbstbehauptung durch Selbstaufgabe. Aber es ist kein Statement im Kulturenkampf.
zeit.de