04.07.2012
Deutschland: Freikirchen protestieren gegen Beschneidungsverbot
Für große Aufregung unter Juden und Muslimen sorgt das Urteil des Landgerichts Köln, eine religiös motivierte Beschneidung sei als Körperverletzung strafbar. Es wurde Ende Juni veröffentlicht und ist inzwischen rechtskräftig.
Deutschland: Freikirchen protestieren gegen Beschneidungsverbot
Für große Aufregung unter Juden und Muslimen sorgt das Urteil des Landgerichts Köln, eine religiös motivierte Beschneidung sei als Körperverletzung strafbar. Es wurde Ende Juni veröffentlicht und ist inzwischen rechtskräftig.
Witten (idea) – Die Freikirchen in Deutschland haben gegen ein Urteil des Kölner Landgerichts protestiert, das religiös begründete Beschneidungen von Jungen unter Strafe stellt. Das Gericht sieht in dieser Praxis eine rechtswidrige Körperverletzung und einen Verstoß gegen das Selbstbestimmungsrecht des Kindes. Die Vereinigung Evangelischer Freikirchen (VEF) äußert sich in einem am 4. Juli veröffentlichen Brief an Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) „schockiert“ über das inzwischen rechtskräftige Urteil. Für Juden werde nun in Deutschland etwas unter Strafe gestellt, was seit Jahrtausenden den Kernbereich jüdischer Identität ausmache, schreiben der VEF-Präsident und Präses des Bundes Freier evangelischer Gemeinden, Ansgar Hörsting (Witten), und seine Stellvertreterin, die Bischöfin der Evangelisch-methodistischen Kirche, Rosemarie Wenner (Frankfurt am Main). Nach ihren Worten werden das Judentum und der Islam diskreditiert und Menschen diskriminiert, die dem Beschneidungsritus in Deutschland folgten: „Ein geringfügiger körperlicher Eingriff wird hier mit maximaler Wirkung zur Ausgrenzung von Menschen besonderer Religionszugehörigkeit kriminalisiert.“ Die beiden Theologen sind davon überzeugt, dass die Beschneidung aus medizinischer Sicht das Kindeswohl nicht schädige, sondern ihm sogar förderlich sein könne. Hörsting und Wenner appellieren an den Gesetzgeber, für Rechtsklarheit zu sorgen und die Beschneidung von Jungen aus religiösen Gründen wieder zuzulassen.
Beim Kindeswohl gibt es Verbesserungsbedarf
Gleichwohl begrüßen die beiden VEF-Vertreter die durch das Urteil angestoßene Debatte über das Kindeswohl. Dessen Schutz sei „unaufgebbare individuelle und gesellschaftliche Pflicht“. Weiter heißt es: „Wir sehen allerdings, dass es hier einen großen Bedarf an Verbesserungen gibt: Kinder und ihre Interessen, ihr Wohlergehen, werden in unserer Gesellschaft viel zu häufig anderen Interessen untergeordnet.“ Zur VEF gehören zehn Kirchen und Gemeindebünde als Vollmitglieder und vier als Gastmitglieder. Die Vereinigung vertritt nach eigenen Angaben etwa 260.000 Gemeindemitglieder.
Berliner Baptistengemeinde startet Unterschriftenaktion
Unterdessen hat die Evangelisch-Freikirchliche Gemeinde (Baptisten) Berlin-Steglitz eine Unterschriftenaktion gegen das Urteil gestartet. Gemeindepastor Matthias Walter hält die Entscheidung für „einen schwerwiegenden Eingriff in die grundgesetzlich verbürgte Freiheit der Religionsausübung“. Die Gemeinde sei durch Kontakte zwischen Baptisten und Juden im Rahmen des christlich-jüdischen Schalom-Chors zu der Aktion motiviert worden. Zum anderen sei einer der Gründerväter des deutschen Baptismus, Julius Köbner (1806-1884), bereits 1848 für die freie Ausübung der Religion eingetreten, „und zwar nicht nur für seine eigene (Minderheits-) Kirche, sondern für alle, ‚seien sie Christen, Juden, Mohammedaner oder was sonst‘“.
Soll die religiös begründete Beschneidung verboten werden?
Dazu ein Pro & Kontra.
PRO Zugegeben: Ich habe noch nicht alle Gesichtspunkte dieser schwierigen Frage durchgedacht und wohl gegeneinander abgewogen. Genau daran krankt übrigens die laufende Debatte – erst recht, wenn das Urteil indirekt gedanklich in die Nähe der NPD gerückt wird. Absurd! Doch ist klar: Wir leben in einem säkularen Rechts- und – Gott sei Dank – nicht in einem „Gottesstaat“. Unsere Richter sind unabhängig und nur dem Gesetz (und also keiner Religion) unterworfen. Die Stabilität unserer Rechtsordnung beruht zu einem guten Teil darauf, dass jede unserer drei Gewalten (Regierung, Gesetzgebung, Rechtsprechung) nur vor ihrer eigenen Türe kehrt. Die Gerichte sind nicht die Projektionsfläche unserer Wünsche und religiösen Einstellungen.
Tatbestandlich stellt Beschneidung – wie Impfung, Operation oder Blutentnahme bei einer Autofahrt unter Alkoholeinfluss – eine Körperverletzung dar. Die Frage ist aber, ob die Eltern als Personensorgeberechtigte hierin einwilligen können, weil ein solcher Eingriff angeblich aus religiösen Gründen dem Kindeswohl dienen soll. Das Kindeswohl zu schützen – besonders bei irreversiblen Eingriffen –, ist auch Aufgabe des Staates. Immerhin scheinen sich Befürworter und Gegner der Beschneidung unversöhnlich gegenüberzustehen. Aus medizinischen Gründen ist sie in Mitteleuropa unnötig. Gerade als Christen müssen wir aber – jedoch in angemessenem Ton – darauf achten, dass die Freiheit der Religionsausübung überall geachtet wird. Würde das aber auch heißen, dass ich meiner Tochter bei einem schweren Vergehen zur Strafe ein Ohrläppchen abschneiden dürfte, wenn mein Glaube es – ehrlich! – so vorsähe? Damit Rechtssicherheit entsteht, ist der Gesetzgeber aufgerufen, für Klarheit zu sorgen!
(Der Autor, Dr. Ingo Friedrich (Babenhausen bei Frankfurt am Main), ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Familienrecht. Er engagiert sich zudem beim Verein „Christ & Jurist“.)
KONTRA Die Beschneidung ist im Judentum und Islam nicht bloßes Brauchtum, sondern konstitutiv für die religiöse Identität. In allen Spielarten des Judentums begründet die Beschneidung die Aufnahme in den Bund mit Gott (1. Mose 17,10–14). Neben religiösen gibt es aber eine Fülle weiterer Gründe dafür, dass die Beschneidung bei Männern weltweit in unterschiedlichsten Kulturkreisen sehr verbreitet ist. Die zuweilen angestellten Vergleiche mit der Genitalverstümmelung von Mädchen muten vor diesem Hintergrund nachgerade absurd an.
Dann müsste ja auch die Kindertaufe verboten werden
In der Beschneidungsfrage steht viel auf dem Spiel:
· das Recht der Eltern, über die religiöse Kindererziehung zu entscheiden, und damit die Annahme, dass die religiöse Beheimatung in der Religion der Eltern grundsätzlich dem Kindeswohl dient;
· die Frage, ob der jüdisch-christliche Dialog lediglich fröhliches Girlandenflechten ist oder Ausdruck theologischer Ernsthaftigkeit;
· die Frage, ob man in Deutschland – dem Land der Shoah! – wirklich will, dass Juden sich wieder fragen müssen, ob sie ihre Kisten packen sollten, weil hier keine jüdische Existenz möglich ist.
Wenn in der Beschneidungsfrage das Elternrecht auf religiöse Kindererziehung zurücktritt, triumphieren antireligiöse Eiferer. Die wollen Kinder am liebsten von jedem religiösen Einfluss fernhalten. In dieser Logik kann man auch die Kindertaufe (als „Beschneidung der Herzen“) verbieten. Christen sollten diesem Denken nicht auch noch Vorschub leisten.
(Der Autor, Prof. Dr. Hans Michael Heinig, ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, insb. Kirchen- und Staatskirchenrecht, an der Universität Göttingen und im Nebenamt Leiter des Kirchenrechtlichen Instituts der EKD.)
Quelle: idea/04.07.2012