23.06.2022

Irak: Christen im Irak "Die Brückenbauer"

David Müller von der ojcos-stiftung und Mitglied im AKREF berichtet über die aktuelle Situation.

(IDEA) Seit über 30 Jahren ist der Irak von Instabilität geprägt. Durch Krieg und Terror verloren viele ihre Heimat. Im Jahr 2003 lebten noch rund 1,5 Millionen Christen im Irak. Nach den Vertreibungen durch den IS ist ihre Zahl nach Schätzungen auf 250.000 gesunken. 

Je nach Studie sind 75 bis 80 Prozent der Menschen, die weltweit wegen ihres Glaubens verfolgt werden, Christen. In Nordkorea, Eritrea oder den Golfstaaten etwa unterliegen sie der Gefahr intensiver Verfolgung.

Wie sieht die Lage im Irak aus?

Die Situation ist nicht vergleichbar mit der in den vorgenannten Ländern. Der Irak ist altes christliches Kernland. Bereits 92 n. Chr. wurde in Erbil ein Bischof eingesetzt. Jahrzehntelange Kriege und nicht zuletzt der Terror des IS haben jedoch zu einem Exodus von fast 90 Prozent der hier seit Generationen lebenden Christen geführt. Die verbliebenen 250.000 spielen aber eine bedeutsame Rolle für den ganzen Irak.

Minderheit im muslimischen Staat

Der Irak ist ein mehrheitlich muslimisch geprägter Staat. Er folgt der islamischen Kultur. Seine Rechtsordnung richtet sich hauptsächlich am islamischen Recht, der Scharia, aus. Dies führt zu einer Benachteiligung der Christen. Konkret bedeutet das, dass ein christlicher Iraker nicht die gleichen Rechte hat wie ein muslimischer. Christen und Angehörige anderer religiöser Minderheiten, wie Jesiden, Bahai, Mandäer oder Juden, sind vor dem Gesetz keine gleichberechtigten Staatsbürger.

Die Christen im Irak unterstützen

„Ich würde nicht unbedingt sagen, dass wir uns ‚verfolgt‘ fühlen, aber auf jeden Fall ‚diskriminiert‘  “, so Emanuel Youkhana, Gründer und Exekutivdirektor des christlichen irakischen Hilfswerks CAPNI. Man könnte also argumentieren, dass die Christen im Irak keiner Hilfe bedürften, da sie nicht verfolgt werden. Dieses Argument wäre jedoch ein Trugschluss und könnte das große Ziel verfehlen, das die christliche Gemeinschaft anstrebt: der Irak als ein Staat, der auf dem Prinzip der Staatsbürgerschaft basiert und nicht auf der Zugehörigkeit zu einer Religion. In ihm sind alle Bürger gleich.

Für ein friedliches Miteinander

Die Christen im Irak arbeiten genau daran. Sie denken und handeln konfessions- und religionsübergreifend. Ihr diakonisches Engagement zielt nicht allein auf ihre Glaubensgeschwister, sondern auf alle Menschen. Warum? „Weil wir Christen sind!“, so Youkhana. „Wir sind durch unsere christlichen Werte motiviert, um im Sinne des Evangeliums zu dienen.“ Das charakterisiert christliches Denken und Handeln: Liebe und dadurch Frieden. Die Christen im Irak sehen sich dem Evangelium verpflichtet und als Brückenbauer, um ein friedliches Zusammenleben aller zu erreichen.

Wider die Gewalt

Dazu muss die irakische Gewaltspirale durchbrochen werden. Bedrängte Minderheiten neigen überall dazu, sich förmlich einzuigeln und von der Mehrheit abzukapseln. Durch ihren diakonischen Ansatz bauen die Christen Brücken – auch zur Mehrheitsgesellschaft. Das hilft beim Abbau von Misstrauen. Mehr noch: Auch Minderheiten untereinander werden durch die christlichen Brücken in Verbindung gebracht, etwa die Jesiden oder die Shabak, die in der gleichen Region leben. Was erreicht werden soll: Vorurteile und Benachteiligungen abbauen, ein Zusammenleben im Bewusstsein, Menschen im gleichen Land zu sein, die sich die gleiche Erde teilen – und das schon seit Jahrhunderten –, sowie die Heilung der Wunden der unmittelbaren Vergangenheit.

 

Traumata der Vergangenheit

Diese Wunden sind u. a. die Traumata, die die Christen erlitten haben. Das Bewusstsein, von Radikalen misshandelt oder vertrieben worden zu sein, gar mitansehen zu müssen, wie Familienmitglieder ermordet wurden, sitzt bei einigen tief. Hier ist Hilfe dringend nötig, denn die christliche Gemeinschaft will nicht weiterhin als Opfer von Verfolgung und Diskriminierung beschrieben oder in diese Rolle gepresst werden. Das bringt keine Lösung, es befördert eher noch den Exodus der Christen. Es geht ganz im Sinne des Evangeliums der Liebe vielmehr darum, Versöhnungsarbeit zwischen den Religionsgemeinschaften und Volksgruppen zu betreiben. „Wir können und dürfen aufgrund unseres Glaubens und unserer Werte nicht nach Rache streben. Wir brauchen zwar Gerechtigkeit für alle, aber dürfen diesen Ruf nach Gerechtigkeit nicht dazu missbrauchen, die Ungerechtigkeit zu vergrößern. Was wir brauchen, ist Frieden“, fasst es Youkhana zusammen.

Vergeben heißt nicht vergessen

Abscheuliches und Unbeschreibliches ist passiert. Vergeben soll nicht mit Vergessen gleichgesetzt werden, aber mit einem Ende des Kreislaufs von Abrechnungen. Das Christentum – besonders in den islamischen Ländern, die zuvor jahrhundertelang christlich geprägt waren – war nie ein Luxus oder ein angenehmes Leben, weder in materieller Hinsicht noch in Bezug auf das Gemeinschaftsleben. Und doch bewahrten die Christen ihre religiöse Identität. Sie und die anderen religiösen Minderheiten zahlten einen hohen Preis für diese Identität. Die Benachteiligungen und die Vorurteile sind mit dem Verschwinden des IS-Terrors nicht mit abgezogen. Sie sind noch da. Daher gilt es, daran zu arbeiten, um die Wunden so rasch wie möglich zu heilen.

Nicht Beschützer, sondern Unterstützer

Die Christen vor Ort handeln nicht nur diakonisch, sondern engagieren sich auch politisch und unterstützen aufgeschlossene Organisationen und Multiplikatoren. Sie fördern Schulen und die Bildung allgemein, sind in den Medien vertreten und nehmen zunehmend Einfluss auf die Gesetzgebung. Daher sollte Hilfe nicht in erster Linie Christen gewidmet werden, da dies als unerwünschter Eingriff des Auslands gewertet werden und die Diskriminierung befeuern könnte. Youkhana drückt es so aus: „Die westlichen Länder sollten nicht als Beschützer der Christen definiert werden, sondern als Unterstützer für das Land.“ Die wirkungsvollste Möglichkeit, um den Irak auf seinem Weg von einer religiösen Gesellschaft hin zu einem Staat unseres Verständnisses zu unterstützen – und somit die Diskriminierung der Christen zu beenden –, ist die Unterstützung der Brücken bauenden christlichen Gruppen im Land.

(Der Autor, David Müller, ist hauptamtlich als „Politischer Fürsprecher für Religionsfreiheit im Irak“ für die ojcos-stiftung (Reichelsheim/Odenwald) tätig. Er besucht regelmäßig den Irak und informiert in Deutschland in Politik und Gesellschaft über die aktuelle Lage.)