27.06.2022

Tunesien: Islam soll nicht mehr Staatsreligion sein

Präsident Saied sagt, der Islam wird in Tunesien nach Verfassungsänderung keine Staatsreligion mehr sein. Die Nation, nicht der Staat sei islamisch.

IIRF-D/MEM/Tübingen/27.06.22 – Es klingt zunächst unglaublich, dass der Islam in einem islamisch ausgerichteten Staat den Status als „Staatsreligion“ verliert: "So Gott will, werden wir in der kommenden Verfassung für Tunesien nicht von einem Staat sprechen, dessen Religion der Islam ist", sagte Saied vor Reportern am internationalen Flughafen Tunis-Carthage. Aber man muss den Rest seines Satzes auch hören: "sondern wir werden von einer Nation sprechen, deren Religion der Islam ist, und die Nation unterscheidet sich vom Staat".

Dies ist eine klare Absage an alle Bestrebungen des Islamischen Staates in seinen verschiedenen Formen, der bekanntlich das Konzept der Nation strikt ablegt zu Gunsten des Kaliphats, der über die ganze islamische Ummah herrscht.

Es gibt eine große Unzufriedenheit in der ganzen islamischen Welt über die Bestrebungen, den politischen Islam in seiner Reinform des Kaliphats zu etablieren. Die ganzen damit einhergehenden Gräuel habe sogar dahin geführt, dass viele Menschen sich vom Islam abgewandt haben, davon identifizieren sich die meisten mit Jesus Christus. Für die Regierenden etlicher islamisch geprägter Länder stehen die Alarmzeichen auf Rot. Reformen – wie etwa unter Kronprinz Muhammad bin Salman in Saudi-Arabien – versuchen  dem Rechnung zu tragen. Auch in Tunesien, das vom Bürgerkrieg der Islamisten gebeutelt war, sollen Tatsachen geschaffen werden.

Saied erhielt am Montag den neuen Verfassungsentwurf, den er vor dem Referendum absegnen soll. Das Referendum findet am ersten Jahrestag der Entscheidung des Präsidenten statt, alle exekutiven Befugnisse in Tunesien zu kontrollieren.

In einem Interview mit Agence France-Presse am 6. Juni sagte der Koordinator der Nationalen Beratungskommission, die mit der Ausarbeitung einer Verfassung für die "Neue Republik" in Tunesien beauftragt ist, Sadok Belaid, dass er Saied einen Entwurf vorlegen werde, der keinen Hinweis auf den Islam als Staatsreligion enthalte. Dies soll die politischen Parteien mit einem islamischen Bezugsrahmen wie die Ennahda-Bewegung konfrontieren und hat im Lande eine Kontroverse ausgelöst.

Im ersten Artikel des ersten Kapitels der allgemeinen Grundsätze der Verfassung von 2014 heißt es: "Tunesien ist ein freier, unabhängiger und souveräner Staat, der Islam ist seine Religion, Arabisch ist seine Sprache und die Republik ist sein System".

Die neue Verfassung soll die Verfassung von 2014 ersetzen, in der ein sich überschneidendes System eingeführt wurde, das zu häufigen Konflikten zwischen Exekutive und Legislative geführt hat. Oppositions- und Menschenrechtsorganisationen werfen Saied vor, einen Text verabschieden zu wollen, der auf seine Wünsche zugeschnitten ist.

Im ersten Artikel der Verfassung des nordafrikanischen Landes, die drei Jahre nach der Revolution von 2011 verabschiedet wurde, heißt es derzeit, dass das Land "ein freier, unabhängiger und souveräner Staat" ist und dass "der Islam seine Religion und Arabisch seine Sprache ist".

Sadeq Belaid, der einst Präsident Kais Saied unterrichtete und letzten Monat zum Leiter der Nationalen Beratungskommission für eine neue Republik ernannt wurde, sagte, er werde den neuen Entwurf bis zum 15. Juni vor dem geplanten Referendum am 25. Juli vorlegen.

Der 83-jährige Belaid erklärte gegenüber AFP: "80 Prozent der Tunesier sind gegen Extremismus und gegen die Nutzung der Religion für politische Zwecke".

"Genau das wollen wir erreichen, indem wir Artikel 1 in seiner jetzigen Form einfach abschaffen", sagte er in einem Interview.

"Es geht nicht um ein präsidiales oder parlamentarisches System", erklärte der Präsident auf die Frage nach dem Regierungssystem, das in der neuen Verfassung verankert werden soll. "Wichtig ist, dass die Souveränität beim Volk liegt, und der Rest sind Funktionen, nicht Behörden. Es gibt die Legislative, die Exekutive und die Judikative; es gibt auch eine Trennung zwischen den Funktionen".