23.05.2022

Türkei: Protestantische Christen sind Diskriminierung, Deportationen und Hassreden ausgesetzt

Die Türkei, die eine säkulare Verfassung hat, weigert sich, die protestantische Gemeinschaft offiziell anzuerkennen oder ihnen zu erlauben, ihre eigenen Kirchen zu betreiben und ihren Glauben frei mit ihren Mitbürgern zu teilen.

Communio Messianica/23.05.22 - Die im Ausland lebende und schreibende türkische Journalistin Uzay Bulut hat unseren Communio Messianica Vorstandsmitglied Ali Kalkandelen und andere protestantische Christen mit einem islamischen Hintergrund zur Lage der Konvertierten in der Türkei befragt und den Bericht "2021 Protestant Community Rights Violation Report" des türkischen Verbands der protestantischen Kirchen, dem Kalkandelen vorsteht, zusammengefasst. Kalkandelen hat den daraus hervorgegangene Artikel Buluts in Providence Magazine zur Verfügung gestellt. Wir bringen hier die wichtigsten Erkenntnisse aus ihrem Bericht.

Nur noch 0,1 Prozent der türkischen Bevölkerung sind griechische, armenische oder assyrische Christen. Der Zusammenbruch der christlichen Gemeinschaften in der Türkei ist das Ergebnis einer jahrzehntelangen Verfolgung, zu der Völkermord, Vertreibungen, Pogrome und offizielle Diskriminierung gehören.

Es gibt aber auch eine wachsende christliche Bevölkerungsgruppe im Lande: türkische Konvertiten zum Christentum, von denen viele zu einer protestantischen Kirche übergetreten sind. Diese Gemeinschaft hat mit vielen Problemen zu kämpfen, unter anderem mit der fehlenden offiziellen Anerkennung durch die Regierung.

Der Bericht "2021 Protestant Community Rights Violation Report" des türkischen Verbands der protestantischen Kirchen listet die Herausforderungen für die Gemeinschaft auf. Dem Bericht zufolge fehlt den protestantischen Christen in der Türkei die rechtliche Anerkennung als Kirche und Glaubensgemeinschaft, was ihre Religions- und Glaubensfreiheit stark einschränkt. Sie sind häufig Hassreden in der Presse oder den sozialen Medien ausgesetzt. Da sie keine offizielle Rechtspersönlichkeit haben, können sie keine eigenen Gotteshäuser errichten oder bestehende Kirchengebäude für Gottesdienste nutzen. Daher versuchen sie, andere Gebäude zu nutzen, was weitere Probleme mit sich bringt. Sie können auch keine Schulen eröffnen, um ihr religiöses Personal auszubilden. Wann immer ausländische religiöse Mitarbeiter in die Türkei kommen, um der protestantischen Gemeinschaft zu dienen, laufen sie Gefahr, ausgewiesen zu werden.

Fehlender Rechtsstatus

Da protestantische Christen ihre Gottesdienste nicht in ihren eigenen Kirchen abhalten können, versuchen sie, Vereine oder religiöse Stiftungen zu gründen oder Vertreter anderer solcher Gruppen zu werden. Die Regierung erkennt sie jedoch nicht offiziell als "Kirche" oder "Kultstätte" an. Der Bericht erklärt dies:

  • Da die Mitglieder der protestantischen Gemeinschaft größtenteils neue Christen sind, verfügen sie nicht über religiöse Gebäude, die Teil ihres kulturellen und religiösen Erbes sind, wie es die traditionellen christlichen Gemeinschaften in der Türkei haben. Die Zahl der nutzbaren historischen Kirchengebäude ist sehr begrenzt. Daher versucht ein großer Teil der protestantischen Gemeinschaft, das Problem der Suche nach einem Gottesdienstraum zu lösen, indem er eine Vereinigung oder religiöse Stiftung gründet oder einen repräsentativen Status bei einer bestehenden Vereinigung oder religiösen Stiftung erlangt und dann eine Immobilie wie ein freistehendes Gebäude, einen Laden oder ein Betriebslager mietet oder kauft, das traditionell nicht für Gottesdienste genutzt wurde. Einige wenige konnten ihre eigenen freistehenden Gebäude errichten. Viele dieser Gebäude haben jedoch keinen offiziellen Status als Gebetsstätte und werden daher nicht offiziell als Gebetsstätte anerkannt, auch wenn sie als solche genutzt werden. Sie können nicht von den Vorteilen oder Annehmlichkeiten profitieren, die eine offiziell anerkannte Gebetsstätte bietet, wie z. B. kostenloser Strom und Wasser sowie Steuerbefreiung. Wenn sie sich bei den Behörden als Kirche vorstellen, werden sie gewarnt, dass sie illegal sind und geschlossen werden können.
  • Die nicht vorhandene Möglichkeit, legal Gottesdiensträume zu besitzen oder betreiben, hat die protestantische Gemeinschaft im vergangenen Jahr vor große Herausforderungen gestellt. Einige Beispiele hierfür sind:
 
  • Das Kirchengebäude der Diyarbakır Armenian Protestant Church Foundation, das (trotz Einwänden und dem Bedarf an einem kirchlichen Gottesdienstraum in Diyarbakir) an die Generaldirektion für Stiftungen übergeben wurde, wurde am 21. Februar 2021 als Bibliothek an das Kulturministerium vermietet. 
  • Die Evangelische Gemeinschaft Tekirdag nahm im Juli 2021 ihre Tätigkeit als Teil eines Vereins auf. Obwohl sie die Menschen in ihrer Umgebung nicht störten, reichten Nachbarn und andere Personen Beschwerden bei der Gemeinde, dem Gouverneursamt und dem Präsidialamt ein. Infolgedessen belästigt die Regierung die Kirche ständig, führt Inspektionen durch und setzt sie unter Druck, die Region zu verlassen. 
  • Die Mitglieder der protestantischen Gemeinde, die in Arhavi in der Provinz Artvin leben, haben eine Immobilie gemietet und wollen Reparaturen und Renovierungen durchführen. Die Handwerker, die diesen Auftrag übernommen haben, konnten aufgrund des sozialen Drucks nicht arbeiten; der Vermieter hat den Mietvertrag aus demselben Grund gekündigt. Die Gemeinde trifft sich weiterhin in den Wohnungen ihrer Mitglieder.

Darüber hinaus hat die protestantische Gemeinschaft kein Recht, ihr eigenes religiöses Personal im Rahmen des staatlichen türkischen Bildungssystems auszubilden. Sie kann auch keine Schulen eröffnen, um den Mitgliedern der Kirchengemeinden Religionsunterricht zu erteilen.

Daher bildet die protestantische Gemeinschaft den Großteil ihres religiösen Personals durch informelle Seminare oder Lehrstellen vor Ort aus. Ein kleiner Prozentsatz erhält eine Ausbildung an theologischen Schulen im Ausland. Gegenwärtig gibt es nicht genügend türkische protestantische religiöse Mitarbeiter oder Leiter, um den Bedarf der wachsenden protestantischen Gemeinschaft zu decken, so dass ausländische Pastoren die geistliche Leitung einiger Kirchen übernehmen müssen.

Gerichtsverfahren

Allerdings stellt die türkische Regierung auch in dieser Hinsicht Hürden. Viele ausländische Mitarbeiter der Gemeinden und auch schlichte Gemeindemitglieder wurden ausgewiesen. Manchen wurde die Einreise in die Türkei verwehrt oder es wurde ihnen ein Aufenthaltsvisum verweigert. Das ist eine Situation, die sich 2019/2021 verschärft hat. Gegen einige Protestanten, die seit Jahren in der Türkei leben, wurden Einreiseverbote für mindestens fünf Jahre verhängt, weil sie "eine allgemeine Sicherheitsbedrohung darstellen." Der Bericht des Verbandes evangelischer Gemeinden führt weiter aus:

In Gerichtsverfahren, die eingeleitet wurden, um diese Situation zu beanstanden, haben die Behörden den Angeklagten zur Last gelegt, dass sie „Aktivitäten zum Nachteil der Türkei verfolgen“, „an missionarischen Aktivitäten teilgenommen haben“ und dass einige von ihnen „an unserer Familienkonferenz teilgenommen haben“, die unsere Vereinigung ja seit zwanzig Jahren jährlich völlig legal veranstaltet. Auch die Teilnahme an anderen Seminaren und Treffen, die ebenfalls völlig legal und transparent sind, wurde ihnen zur Last gelegt.

Hassrede

Ein weiteres großes Problem für die protestantische Gemeinschaft ist die Zunahme von Hassrede in den sozialen Medien. Die Autoren des Berichts schreiben:

Es hat eine deutliche Zunahme von Hassreden voller Beleidigungen und Obszönitäten gegeben, die sich gegen offizielle Webseiten der Kirchen, Kirchenführer, das Christentum, christliche Werte und Christen im Allgemeinen richten und von Gruppen in den sozialen Medien ausgehen, die Hass gegen Christen kultivieren und christliche Webseiten und Accounts in den sozialen Medien ins Visier genommen haben.

Die sozialen Medien sind zum Schauplatz von Anfeindungen, Ausgrenzungen, Erniedrigungen und Diskriminierungen aller Art geworden und haben sich auch zu den Medien entwickelt, in denen die Korruption von Informationen am größten ist. Hassrede findet auf dieser Plattform leicht eine Bühne.

Diese Art von Aktivitäten [in den sozialen Medien], die sich gegen alle christlichen Konfessionen und Minderheitengruppen richten, lösen in der protestantischen Gemeinschaft Besorgnis aus.

So wurden beispielsweise Emin T., ein Kirchenmitarbeiter, und die Aydin-Kurtulus-Kirche als solche durch Nachrichten bedroht, die von einem gewissen „T.U.“, der in Bursa lebt, auf Facebook gepostet wurden. Der kirchliche Mitarbeiter erstattete daraufhin Anzeige, weil der Inhalt der Nachrichten Drohungen enthielt, „Christen durch Enthauptung oder auf andere Weise zu töten“. Auch andere Personen, die in Aydin leben, posteten weitere Drohbotschaften. Eine dieser Personen wurde vorübergehend festgenommen, aber bald wieder freigelassen. Die Kirche hat von den Justizbehörden keine Informationen über etwaige Ermittlungen erhalten.

 

Die Mitglieder der Artvin Arhavi Fellowship waren Angriffen in den Medien ausgesetzt.  Später belästigten Unbekannte den Vermieter und setzten ihn unter Druck, dass er sie von seinem Grundstück vertreibe. Der Bezirksvorsitzende einer politischen Partei postete in den sozialen Medien Aussagen wie "wir werden sie vernichten". Der Leiter der Gemeinschaft traf sich mit dem Bezirksvorsitzenden, der daraufhin vorgab, vernünftiger zu sein. Doch die negativen Reaktionen, die in den sozialen Medien gepostet und sogar offen auf der Straße geäußert werden, halten an. Der Leiter der Kirchengemeinschaft hört immer noch verächtliche und bedrohliche Parolen wie "dead priest walking", wenn er draußen spazieren geht.

Geheimdienste wollen Gemeinden infiltrieren

Dem Bericht von 2021 zufolge erhalten Mitglieder der protestantischen Gemeinschaft sowie Nichtchristen, die für christliche Organisationen arbeiten, weiterhin Angebote, als Informanten für die Geheimdienste zu arbeiten. In vielen Städten mit protestantischen Gemeinden haben Personen, die sich als Geheimdienstmitarbeiter ausgaben und solche Angebote machten, Berichten zufolge Drohungen, Versprechungen, Vorteile oder Geld eingesetzt, um Informationen über Christen, Kirchen, kirchliche Aktivitäten und christliche Organisationen zu erhalten. Personen, denen die Rolle eines Informanten angeboten wurde, gaben diese Informationen an Mitglieder der protestantischen Gemeinschaft weiter.

Ein rechtliches Existenzproblem

Ali Kalkandelen, der Gründungspastor der Eurasia Protestant Communities Foundation und Präsident des türkischen Verbands der protestantischen Kirchen, erklärte gegenüber Providence:

Protestantische Christen haben ein rechtliches Existenzproblem. Türkische protestantische Kirchen haben keine legale Identität im Gesetz. Diese Situation bringt viele Probleme mit sich, unter anderem in Bezug auf unsere Gotteshäuser, unser Recht auf Gottesdienst, religiöse Mitarbeiter, Grabstätten und eine angemessene Vertretung in den staatlichen Protokollen. 

Protestantische Gotteshäuser sind in der Türkei immer noch nicht gesetzlich anerkannt und akzeptiert. Alle unsere Versuche und Bemühungen um eine offizielle Anerkennung sind bisher vergeblich gewesen. Darüber hinaus wurden an die 70 ausländische Staatsangehörige mit ihren Familien und etwa 10 türkische Staatsangehörige, die mit Ausländern verheiratet sind, bereits abgeschoben oder sind von der Abschiebung bedroht mit der Begründung, dass sie „missionieren“, „eine Kirche gegründet hätten“, „das Christentum praktizieren“ oder eine „Bedrohung für die nationale Sicherheit“ darstellen. Wir halten diese Anschuldigungen für völlig unverständlich, böswillig und inakzeptabel, sehen darin aber auch den Versuch, die Kirche zu schwächen.

Darüber hinaus gibt es in der Gesellschaft ein allgemeines Missverständnis gegenüber den evangelischen Christen, das uns als Verräter, Kollaborateure, verräterische Türken und Feinde von Religion, Nation und Kultur sieht.

Laut Pastor Kalkandelen ist dieses Missverständnis größtenteils auf die "absichtliche und massive Diffamierung durch Desinformation in den Medien" zurückzuführen. Er führte aus:

»Einige Medien in Wort und Bild verbreiten diese Propaganda. Inhalte, die uns oder unsere Gotteshäuser als "Kirchen unter der Treppe", "Ladenkirchen", "Wohnungskirchen", "gekaufte Türken", "Kollaborateure mit ausländischen Mächten" oder "türkische Ableger der Kreuzfahrer" bezeichnen, werden von einigen Medien als Mittel zur Steigerung ihrer Auflage verwendet. Die Veröffentlichung solcher Inhalte und die Darstellung unseres Glaubens und unserer Gottesdienste auf so hasserfüllte und unwahre Weise wird von einigen Medien als "nationaler und geistiger Wert" angesehen. Eine solche Sichtweise findet leider auch in der breiten Bevölkerung Zustimmung. Die Öffentlichkeit sieht die evangelischen Kirchen so, wie die Medien uns darstellen. Infolgedessen hat eine solche Propaganda, die auf unseren Glauben und unsere Kirchen abzielt und sie verleumdet, zu einigen Protesten, verbalen Verhöhnungen, zur Beschädigung von Schildern, Fenstern oder Kreuzen unserer Gotteshäuser und respektlosen Schmierereien an unseren Kirchenwänden geführt. Außerdem stehen einige Christen, die seit Jahren aktiv in der Kirche tätig sind, immer noch auf Todeslisten. Um sie zu schützen, wurden staatliche Sicherheitsmaßnahmen ergriffen.«

Kalkandelen fügte hinzu:

»Unser dringendstes Bedürfnis ist die Anerkennung der protestantischen Kirchen durch die türkische Regierung auf einer rechtlichen Grundlage mit einer soliden Legalisierung und der Gewährung unserer Vertretungsrechte als juristische Person. Wir brauchen auch die Aufhebung der Gerichtsbeschlüsse gegen die Protestanten, die als Bedrohung für die nationale Sicherheit der Türkei angesehen werden und die deportiert wurden oder kurz vor der Deportation stehen.«

Soner Tufan, Mitglied des Vorstands des Verbands Evangelischer Kirchen und dessen Beauftragter für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, erklärte gegenüber Providence:

»Eine juristische Person zu sein, wäre die Grundvoraussetzung, die die meisten Bedürfnisse gewährleisten würde. Da wir keine juristische Person sind, können wir kein Kirchengebäude bauen. Wir können keine Lösung für das Problem der Nachwuchsgewinnung für den Klerus finden. Die Tatsache, dass wir als protestantische Kirchen nicht als türkische Christen anerkannt sind, beraubt uns dieser Rechte.

 

Wenn Sie Gemeinde- und Regierungsbeamte nach evangelischen Christen fragen, werden sie sagen: "Natürlich haben sie Rechte!" Doch trotz all unserer Bemühungen gibt es in der Türkei weder ein einziges Gebäude, das als evangelische Kirche im Grundbuch eingetragen ist und die Unterschrift eines Gouverneurs und eines Bezirksgouverneurs trägt, noch eine Kirche, die in den letzten 20 Jahren den Status einer juristischen Person erlangt hat.«

Zum Vergleich: In der gesamten Türkei gibt es etwa 85.000 Moscheen, die dem staatlichen Präsidium für religiöse Angelegenheiten (Diyanet) unterstellt sind.

In der Zwischenzeit hat die Türkei ihre Kampagne zur Eröffnung von Moscheen in der ganzen Welt, darunter in Europa, Asien, Afrika, Nord- und Südamerika, beschleunigt.  Die Türkei, die eine säkulare Verfassung hat, weigert sich jedoch, die protestantische Gemeinschaft offiziell anzuerkennen oder ihnen zu erlauben, ihre eigenen Kirchen zu betreiben und ihren Glauben frei mit ihren Mitbürgern zu teilen. Gleichzeitig hat die Türkei viele historische Kirchen und Klöster in Moscheen, Ställe, Lagerhäuser, Messehallen, Munitionslager oder Privathäuser umgewandelt.

Die türkischen Regierungsbeamten bezeichnen demokratische westliche Nationen, die die Religionsfreiheit respektieren, fälschlicherweise als "islamfeindlich", aber ihre eigene Christenfeindlichkeit ist von seismischem Ausmaß.

Quelle:

https://providencemag.com/2022/05/protestant-christians-turkey-discrimination-deportations-hate-speech/