25.10.2024
Ukraine: Verhaftung, Druck und Misshandlung von Wehrdienstverweigerern aus Gewissensgründen
AKREF-A/25.10.24 - Militärangehörige und Angestellte in Rekrutierungsbüros und Militäreinheiten üben Druck auf Männer, darunter Wehrdienstverweigerer aus Gewissensgründen, aus, um sie zum Wehrdienst zu zwingen. Es kommt zu willkürlichen Verhaftungen, wobei die Männer in manchen Fällen einige Monate festgehalten werden, Essensentzug und Schlägen. Den Männern werden Haftstrafen oder nicht näher genannte Konsequenzen angedroht.
Artikel 35 der Verfassung der Ukraine garantiert das Recht auf Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen. Dieses Recht ist jedoch in Friedenszeiten auf die Angehörigen von 10 namentlich genannten Religionsgemeinschaften beschränkt. In einer Zeit des Krieges wird es von den Offiziellen überhaupt nicht anerkannt.
Die vor die Rekrutierungsstellen geladenen Männer sind starkem Druck ausgesetzt, Militärdokumente zu unterschreiben, selbst wenn sie ersuchen, zivilen Wehrersatzdienst gemäß Artikel 35 der Verfassung leisten zu dürfen. „Man muss sehr stark sein, um diesem Druck standzuhalten“, erklärte ein protestantischer Leiter aus dem Westen des Landes gegenüber Forum 18. „Den Männern, die zivilen Wehrersatzdienst leisten wollen, wird das nicht gestattet“.
Der Angehörige einer Gemeinde des Rats der Baptistengemeinden Matfei Sapozhnikov aus Kamenets-Podilsky wird seit 1. Mai gegen seinen Willen in einer Militäreinheit festgehalten und Kiril Berestovoi, aus Khmelnitsky, ebenfalls ein Baptist, seit dem 1. Juli.
Ein Angehöriger einer Pfingstgemeinde, der ebenfalls den Wehrdienst aus Gewissensgründen verweigert und in einer Militäreinheit in der Region Rivne festgehalten wurde, beschreibt die Bedingungen in der Militäreinheit als „moderne Sklaverei“. „Sie haben versucht, mich zu brechen: sie haben psychischen Druck ausgeübt und tun dies noch immer, sie haben mich drei Tage lang in einer kalten Grube eingesperrt und auch in einer Einzelhaftzelle“, erklärte er und gab an, dass er am Anfang, als er einrücken musste, geschlagen wurde.
Artikel 29 der Verfassung sieht vor, dass niemand ohne Gerichtsbeschluss mehr als 72 Stunden festgehalten werden darf. Dieser Artikel bestimmt, dass eine verhaftete Person unverzüglich freigelassen werden muss, wenn nicht innerhalb von 72 Stunden ein gerichtlicher Haftbefehl mit Begründung ergeht.
Am 11. Juni wurde der Siebenten Tages Adventist Pavlo Halagan, der ebenfalls den Wehrdienst aus Gewissensgründen verweigerte, von Angestellten des Rekrutierungsbüros der Region Uzhhorod unter so starken psychischen Druck gesetzt, dass er einen Nervenzusammenbruch erlitt. Danach wurde er an ein Bett gekettet und geschlagen. Schläge mit Händen und Fäusten und Fußtritte zielten auf Oberkörper und Kopf. Forum 18 setzte sich telefonisch mit dem Rekrutierungsbüro in Verbindung. Die Mitarbeiter hörten sich die Vorwürfe an und legten dann wortlos auf.
Kiril Berestovoi berichtete, dass ihn am 1. Juli um ca. 23 Uhr ein Kommandant in einem Militärlager in der Transkarpatenregion beim Hals gepackt und aus dem Zelt gezogen hätte. Daraufhin hätte ihn der Kommandant gegen Kopf und Herzgegend geschlagen und trotz seiner Bitten, er möge aufhören, weitergemacht. Diese Tortur hätte etwas eine halbe Stunde gedauert. Dennoch hätte er weiterhin an seiner Position festgehalten. In Beantwortung von Apellen von sechs Baptisten erklärte Oberst Serhy Kuzmenko, Chef der Militärpolizei in Kiew, dass man Untersuchungen im Fall Berestovoi durchgeführt hätte. Die Ermittler hätten mit Kommandanten und Soldaten der betreffenden Einheit gesprochen, die jede Ausübung von psychischem Druck oder tätliche Handlungen gegen den Rekruten in Abrede gestellt hätten.
Am 5. Juli prügelten zwei Mitarbeiter des Rekrutierungsbüros des Bezirks Kamianets-Podilsky mit Händen und Füßen auf den Adventisten Oleksy Kamiennoi ein und trafen ihn am Rücken, Oberkörper und Kopf. Als er kurz das Bewusstsein verlor – so in seiner Beschwerde – übergossen sie ihn mit kaltem Wasser und setzten danach die Prügelaktion fort.
Anfragen von Forum 18 beim zuständigen Rekrutierungsbüro, beim Staatlichen Ermittlungsamt in Kiew (zuständig für Ermittlungen gegen höhere Beamte) und beim Ombudsmann für Menschenrechte bezüglich verschiedener Fälle von Misshandlungen blieben unbeantwortet.
Allerdings ist festzuhalten, dass das Staatliche Ermittlungsamt bereits im Oktober 2023 auf seiner Website berichtete, dass 260 Ermittlungsverfahren wegen mutmaßlicher Vergehen und Verbrechen in regionalen Rekrutierungsbüros und bei militärärztlichen Kommissionen anhängig wären. Die Vorwürfe betrafen sowohl Misshandlungen als auch Korruption, wie etwa Beihilfe zur Vermeidung des Militärdienstes für Privilegierte. Zu dem genannten Zeitpunkt waren bereits 35 Anklagen an die zuständigen Gerichte übermittelt worden. In der Veröffentlichung des Ermittlungsamts wurde auch betont, dass die überwiegende Mehrheit der Beamten und Militärangehörigen ihren Aufgaben ordnungsgemäß nachkommen.
Derzeit riskieren Wehrdienstverweigerer aus Gewissensgründen Strafverfolgung gemäß Artikel 336 des Strafgesetzbuchs (Verweigerung der Einberufung zum Militärdienst bei Mobilmachung oder in einer speziellen Periode und zum Militärdienst anlässlich der Einberufung von Reservisten“). Dies ist mit einer Freiheitsstrafe von drei bis fünf Jahren bedroht.
Seit die Ukraine nach der russischen Invasion das Kriegsrecht in Kraft gesetzt hat, haben Staatsanwälte mehr als 50 Anklageschriften gegen Wehrdienstverweigerer aus Gewissensgründen an die Gerichte übermittelt. Mehr als 35 der Angeklagten sind Zeugen Jehovas. Fünf Verfahren endeten bisher mit Schuldsprüchen drei mit Freisprüchen (gegen die die Staatsanwaltschaft Berufung eingelegt hat). Die Verfahren gegen 28 Zeugen Jehovas sind noch nicht abgeschlossen.
Seit dem Sommer 2024 hat die Zahl der Anklagen nach Artikel 336 des Strafgesetzbuchs stark zugenommen.
Quelle: Forum 18, Oslo (Bericht vom 18. Oktober 2024)
Deutsche Fassung: Arbeitskreis Religionsfreiheit der ÖEA