30.03.2020

Türkei: Präzedenzfall für die Zukunft?

Urteil des Obersten Gerichtshofs zur Wahl des Armenischen Patriarchen

Das Verfassungsgericht der Türkei (Anayasa Mahkemesi - AYM) hat im Mai 2019 ein wichtiges Urteil bezüglich staatlicher Einmischung in die Wahl eines religiösen Leiters erlassen. Im konkreten Fall ging es um die lange andauernde Behinderung der Wahl eines Patriarchen für die armenische Gemeinschaft in der Türkei. Das Gericht erkannte zu Recht, dass eine derartige Einmischung nicht gesetzlich vorgeschrieben und in einer demokratischen Gesellschaft nicht notwendig ist.

Die Armenisch Apostolische Kirche ist die größte christliche Gemeinschaft in der Türkei.

Staatliche Einmischung in die inneren Angelegenheiten von Religionsgemeinschaften hat eine lange Tradition und bedenkliche Auswirkungen auf zahlreiche Gemeinschaften in der Türkei.

Theoretisch könnte das Urteil des Verfassungsgerichts auch auf andere Religionsgemeinschaften in der Türkei angewandt werden, die unter staatlicher Einmischung leiden. Durch dieses Urteil wurde ein Präzedenzfall geschaffen, der auch als Leitlinie für andere Gerichte dienen sollte, die über analoge Fälle zu befinden haben. Es bleibt jedoch abzuwarten, ob dies in der Praxis der Fall sein wird.

Während das Urteil wichtige Feststellungen bezüglich der ungerechtfertigten Einmischung des Staates in die internen Angelegenheiten der armenischen Gemeinschaft enthält, wirft es auch Fragen auf, ob das Verfassungsgericht die richtige innerstaatliche Instanz ist oder ein Akteur, der gleichzeitig Türen für Klagen vor dem Europäischen Menschengerichtshof in Straßburg verschließt und damit eine internationale Überwachung der Umsetzung des Urteils verhindert.

Der Staat hatte die armenische Gemeinschaft seit 2009, als der damalige Patriarch Mesrob Mutafyan aufgrund von Krankheit nicht mehr in der Lage war, seine Funktion auszuüben, an der Wahl eines neuen Patriarchen gehindert. Erst 2019 konnte die Gemeinschaft Bischof Sahak Mashalyan zum neuen Oberhaupt wählen. Die Abhaltung dieser Wahl im Dezember 2019 wurde von den Behörden erst nach dem Tod Mutafyans gestattet. Die staatliche Behinderung der Wahl eines neuen Patriarchen während eines so langen Zeitraums hatte sich äußerst negativ auf die Angelegenheiten der armenischen Gemeinschaft ausgewirkt. Die lang andauernde Abwesenheit eines Leiters hat bestehende Probleme vertieft und die ständige Vorwahlstimmung, ohne zu einer Entscheidung gelangen zu dürfen, war ein fruchtbarer Boden für Spaltungen und Konflikte. Während die routinemäßigen Aktivitäten der Kirche fortgesetzt wurden, konnten wichtige Entscheidungen nicht getroffen und keine neuen Projekte in Angriff genommen werden. Der unerlässliche Kontakt zum Staat war ohne handlungsfähigen Patriarchen nicht möglich.

Das Urteil des Verfassungsgerichts vom Mai 2019 enthält eine wahrheitsgetreue Beschreibung der Einmischung des Staates in das Recht der armenischen Gemeinschaft, ihren Leiter selbst zu bestimmen sowohl vor Einbringung der Klage, als auch während des Zeitraums danach. Bei der Prüfung der rechtlichen Aspekte nahm das Verfassungsgericht Bezug auf die Regelungen für die armenische Millet (ethnisch-religiöse Gemeinschaft) von 1863 und völkerrechtliche Bestimmungen, darunter die Europäische Menschenrechtskonvention und die Bestimmungen des Lausanner Friedensvertrags von 1923 über den Schutz der Nichtmuslime in der Türkei.

Die zehn Jahre andauernde Blockierung der armenischen Gemeinschaft bei der Wahl ihres Patriarchen illustriert die generelle Verwundbarkeit der Religionsgemeinschaften in der Türkei, die mangels eigener Rechtspersönlichkeit und aufgrund des fehlenden gesetzlichen Rahmens vom politischen Willen des Staates abhängig sind, der sich oft ändern kann. Diese Situation ist mit den Normen der Europäischen Menschenrechtskonvention unvereinbar.

Quelle: Forum 18, Oslo (Meldung vom 27. März 2020)

Deutsche Fassung: Arbeitskreis Religionsfreiheit der ÖEA