16.09.2021

Afghanistan: Markus Spieker in Kabul – Wer protestiert, wird schikaniert

IDEA/16.09.2021 - Der MDR-Journalist Markus Spieker hat für die ARD aus der afghanischen Hauptstadt Kabul berichtet. Wie er die aktuelle Lage in dem Land einschätzt, hat er der Evangelischen Nachrichtenagentur IDEA beantwortet. Das Interview wurde schriftlich geführt. Markus Spieker ist ehemaliger Leiter des ARD-Auslandsstudios Südasien in Neu-Delhi (Federführung TV, MDR).

IDEA: Wie sehen die Arbeitsbedingungen in Kabul aus?

Spieker: Tatsächlich war ich überrascht, dass die Arbeits- und Fortbewegungsbedingungen in Kabul vergleichsweise gut sind. Es gibt zwar sehr zahlreiche Taliban-Kontrollen, aber wenn man eine Art „Ausweis“ der neuen Regierung vorweist, darf man weiterfahren. In den letzten Wochen gab es auch – abgesehen von dem gravierenden Anschlag am Flughafen – keine Terrorattacken. Insgesamt hatte ich den Eindruck, die Taliban bemühen sich um gute Kontakte zu den westlichen Mächten. Aber alle, die protestieren oder sich gegen das neue Regime auflehnen, werden schikaniert. Und aus den afghanischen Provinzen habe ich gehört, dass dort einzelne Taliban-Kommandos Rache an ihren Gegnern und Andersdenkenden üben.

IDEA: Haben Sie Kontakt zu Ortskräften, die von der Bundesregierung enttäuscht sind?

Spieker: Diesen Kontakt hatte ich eher vor meinem Besuch in Kabul. Ich hatte während der Arbeit an der TV-Dokumentation „Der Abzug“ – siehe auch ARD Mediathek – Kontakt zu mehreren Ortskräften. Derjenige, der sich am meisten über seine Situation beschwert hat, ist jetzt zum Glück sicher in Deutschland. Es gibt sicher noch einige Ortskräfte, die gegen ihren Willen noch in Afghanistan festsitzen. Deren Probleme will ich nicht kleinreden. Aber man darf dabei nicht vergessen, dass es fast 38 Millionen Afghanen gibt, die den Taliban und deren Regime nun ausgeliefert sind. Ich glaube, um deren Nöte wird es in den nächsten Monaten verstärkt auch in unserer Berichterstattung gehen müssen.

IDEA: Sind die Taliban weniger korrupt als das alte Regime?

Spieker: Das muss sich zeigen, wenn sie ihre Macht fest etabliert haben. Es ist ja einfach, den rigorosen Saubermann zu spielen, wenn man keine Posten zu vergeben und keine Gelder zu kassieren hat. Fakt ist: Das Taliban-Regime ist aktuell nahezu pleite. Sie werden sicher auch die eine oder andere krumme Geldbeschaffungstour machen, um sich finanziell besser aufzustellen. Außerdem habe ich von Leuten auf dem Land gehört, dass die Taliban sie gezwungen haben, ihr Vieh zu schlachten, damit die Taliban ordentlich zu essen haben. Das ist Erpressung und Diebstahl.

IDEA: Die Taliban haben sich für Übergriffe auf demonstrierende Frauen entschuldigt. Ist diese „Charme-Offensive“ vorübergehend, bis die internationale Medienöffentlichkeit nicht mehr gegeben ist?

Spieker: Die Taliban wollen den Eindruck der Rechtmäßigkeit erwecken. Chaotisch um sich schlagende Polizisten passen da nicht ins Bild. In Zukunft wird man versuchen, solche Proteste von vornherein zu verhindern. Außerdem hat man durch ein neues Gesetz dafür gesorgt, dass quasi alle Proteste künftig illegal sind. Wer dagegen verstößt, wandert unter Umständen gleich ins Gefängnis. Von Charme-Offensive kann man da kaum sprechen.

IDEA: Sie hatten ein Foto gepostet aus einem Hörsaal mit Frauen, die alle komplett schwarz gekleidet und verschleiert sind: Was bedeuten die Taliban für die Frauenrechte? Was haben die Taliban den Frauen bereits untersagt?

Spieker: Das Foto entstand bei einer PR-Aktion der Taliban, die dafür Journalisten wie mich in die pädagogische Hochschule von Kabul eingeladen hatten. Ich weiß bis heute nicht, wie viele der Frauen tatsächliche Studentinnen waren und wie viele die dunkle Tracht freiwillig getragen haben. Inwieweit die Taliban durchsetzen wollen, dass der Universitätsalltag künftig landesweit so aussehen soll, weiß ich nicht. Wichtig war ihnen, dass Frauen und Männer getrennt unterrichtet werden. Manche haben darin das positive Zeichen gesehen, dass die Taliban die Frauen nicht wie früher grundsätzlich von der höheren Bildung ausschließen wollen. Ich fand es trotzdem gruselig.

IDEA: Viele Hilfswerke befürchten eine humanitäre Katastrophe. Wie schätzen Sie die Lage ein?

Spieker: Sehr dramatisch. Das Regime ist pleite. Drei Viertel des Staatshaushaltes kamen schon früher aus dem Ausland. Jetzt sind diese Subventionen futsch, das Steueraufkommen minimal, die Rücklagen der Taliban gering und ihr Kredit bei anderen Ländern noch geringer. Dazu kommen Missernten, die Corona-Krise, Inflation, Arbeitslosigkeit … Schon jetzt lebt die Hälfte des Landes an oder unter der Armutsgrenze. Millionen von Afghanen steht ein Hungerwinter bevor.

 

IDEA: Muss man die Taliban jetzt international als legitime Regierung anerkennen?

Spieker: Natürlich nicht. In den kommenden Monaten wird diese Frage zwischen der internationalen Staatengemeinschaft und den Taliban ausgehandelt werden. Da muss man sehen, wie weit sich die Taliban in punkto Menschenrechte wenigstens zu einigen Mindeststandards verpflichten lassen. Hier und auch bei der Frage der Finanzmittel hat die internationale Staatengemeinschaft einen Hebel. Ganz unabhängig davon ist die Frage, ob man Menschen in akuter Existenznot zur Hilfe kommt: Das sollte man auch tun, wenn die Taliban sich von ihrer schlechtesten Seite zeigen. Jedenfalls gibt es von den Taliban das klare Signal, dass soziale Hilfskräfte weiter in Afghanistan arbeiten dürfen - auch mit Mitarbeiterinnen.

IDEA: Was war der größte Fehler des Westens?

Spieker: Es gibt so viele, dass man gar nicht weiß, wo man beginnen soll, angefangen bei der Tatsache, dass zunächst ja nur der Terror bekämpft werden sollte. Gleichzeitig darf nicht vergessen werden, dass es vielen Afghanen während der 20 Jahre eindeutig besser ging als vorher unter den Taliban. Der größte Fehler war sicher, aus Mangel an Fantasie und aus Bequemlichkeit mit den alten Eliten zusammengearbeitet zu haben: mit korrupten Stammesfürsten, denen es nur um die eigenen Interessen ging. Vielleicht hätte man versuchen müssen, das Land mit einer eher technisch ausgerichteten Verwaltung allmählich in die Demokratie einzuführen und währenddessen eine neue Generation politischer Führungskräfte heranzubilden. Das hätte aber Geduld, Einmütigkeit und Kreativität erfordert. Davon gab es in den letzten Jahren eindeutig zu wenig.

IDEA: Welche Perspektive haben Christen in Afghanistan und wie ist die Situation der christlichen Konvertiten im Land? Hatten Sie die Möglichkeit, mit einigen zu sprechen?

Spieker: Ich bin tatsächlich im Kontakt mit einigen der sehr wenigen Christen in Afghanistan. Sie leben in Todesangst. Einige von ihnen, die mit westlichen Organisationen zusammengearbeitet haben, fühlen sich im Stich gelassen. Ihre Konversion ist natürlich streng geheim. Wenn der Glaubenswechsel publik werden sollte, würde das nach Taliban-Rechtsverständnis die Todesstrafe nach sich ziehen.

IDEA: Herzlichen Dank für die Informationen!

Der Fernsehjournalist und Historiker Markus Spieker ist Autor von „Jesus. Eine Weltgeschichte“ (Fontis).