07.08.2007

Schweiz: Die Religionsfreiheit in der Schweiz ist nicht absolut

Die Initiative für ein Minarettverbot bietet die Chance, in einen Dialog zu treten, sagte Nationalratspräsidentin Christine Egerszegi vor den Botschaftern muslimischer Länder.

Schweiz: Die Religionsfreiheit in der Schweiz ist nicht absolut

Die Initiative für ein Minarettverbot bietet die Chance, in einen Dialog zu treten, sagte Nationalratspräsidentin Christine Egerszegi vor den Botschaftern muslimischer Länder.

Hier der Text ihrer Ansprache:
Lieber Herr Botschafter Kandari, Exzellenzen, meine Damen und Herren.
Der persönliche Kontakt und die Bereitschaft zum offenen Dialog sind eine gute Grundlage für
das gegenseitige Verständnis und das Zusammenleben verschiedener Religionen und Kulturen.
Dabei ist es auch wichtig, Unterschiede zu benennen und deutlich zu machen, wo sich Kulturen
gegenüberstehen oder überschneiden, denn nur so finden wir Antworten auf die Frage, wie wir
mit den Verschiedenheiten friedlich und respektvoll umgehen können.
Durch die Globalisierung ist die Distanz zu allen islamischen Ländern kleiner geworden. Mit
den meisten hat die Schweiz sehr gute wirtschaftliche und diplomatische Beziehungen. Doch die
Globalisierung hat nicht nur wirtschaftliche Auswirkungen. Durch die Globalisierung und die
Migration sind uns auch Kulturen, Traditionen und Werthaltungen nähergekommen.
Die Schweiz hat eine lange Tradition im Zusammenleben verschiedener Kulturen und
Religionen. Das hat sie nach heftigen Bürgerkriegen mühevoll lernen müssen. Seit 1848 ist in
der Bundesverfassung das Recht verankert, dass Minderheiten ihre eigene Kultur behalten und
ihre Traditionen pflegen dürfen. Aber dieses Recht bringt auch die Pflicht mit sich, den andern
Kulturen im Land mit gleicher Achtung und gleichem Verständnis zu begegnen. Mit dieser
festgeschriebenen Grundhaltung ist es der Schweiz gelungen, die vielfältigen sprachlichen und
kulturellen Regionen zu einem Land zu vereinen.
Bei aller Toleranz und allem Verständnis gegenüber verschiedenen Lebensarten, Werthaltungen
und Traditionen gibt es für uns aber Grundsätze, Freiheiten und Rechte, die - von unserer
Verfassung geschützt - überall Gültigkeit haben und nicht verhandelbar sind: die
Menschenrechte, die Grundwerte, die Freiheitsrechte, die gleichen Rechte von Mann und Frau
(nicht nur die gleiche Würde), die demokratischen Regeln und die Rechtsstaatlichkeit. Sie
müssen von allen, die in unserem Land leben, respektiert werden - und zwar im öffentlichen wie
im privaten Bereich. Das gilt auch für die physische und psychische Unversehrtheit des
Einzelnen. Religiöse oder kulturelle Traditionen dürfen nie über ein Gesetz gestellt werden.
Die Religionsfreiheit gehört zu den allgemeinen Menschenrechten. In unserer Bundesverfassung
garantiert Artikel 15 diese Freiheit, die als individuelle Glaubens- und Gewissensfreiheit zu
verstehen ist, die man allein oder in Gemeinschaft mit andern leben kann. Die Religionsfreiheit
ist aber nicht absolut, sie steht immer im Kontext zu den vorher erwähnten Grundrechten:
Meinungsfreiheit, Redefreiheit, unseren sozialen Rechten und Pflichten in unserer Verfassung.
Die Religionsfreiheit ist ein wichtiges Grundrecht in unserem Land. Aber auch wenn sich die
Schweizer Verfassung auf die christliche Tradition beruft, haben wir eine strikte Trennung von
Kirche und Staat. Es gibt keine Staatskirche, und wir lehnen die Instrumentalisierung der
Religion für politische Zwecke strikte ab. Unsere Verfassung und die daraus hervorgegangenen
Gesetze gelten für alle Religionen, selbst wenn sie diese in ihrer Ausübung behindern könnten.
Bei diesem Thema kommt man nicht darum herum, ein paar Bemerkungen anzufügen über die
geplante Initiative eines Minarettverbotes in der Schweiz. Die Schweizerinnen und Schweizer
haben das demokratische Recht, mit einer Initiative einen neuen Verfassungsartikel
vorzuschlagen. Auf dieses politische Instrument unserer Demokratie sind wir stolz, weil damit
alle Bürgerinnen und Bürger direkt unsere politischen Entscheide mit gestalten können. Wenn
es gelingt, 100 000 Unterschriften zu sammeln, muss das Anliegen von Regierung und
Parlament beurteilt und danach der ganzen Bevölkerung zur Abstimmung vorgelegt werden.
In der Tat greift diese Initiative ein heikles Thema auf, das in den kommenden Monaten noch
viel zu reden geben wird. Ich werde als Nationalratspräsidentin noch keine Stellung zum Inhalt
beziehen; doch spricht diese Initiative eine gewisse Angst in unserer Bevölkerung an. Ängste
entstehen häufig dann, wenn eine Informationslücke besteht, wenn der direkte Kontakt und das
gegenseitige Verständnis nicht oder ungenügend aufgebaut worden sind. In diesem Sinne finde
ich, dass wir diese Initiative als Chance betrachten und in einen gemeinsamen Dialog treten
sollten. Muslimische Gemeinschaften sollten ihre Bemühungen verstärken, mit der
andersgläubigen Bevölkerung Kontakt zu pflegen - dabei müssen sie die eigene Kultur nicht aufgeben. So könnten existierende Ängste abgebaut werden.
Die Debatte um diese Initiative hat zaghaft begonnen, sie könnte aber mit der Zeit zu einer
hitzigen politischen Diskussion führen. Deshalb ist es wichtig, dass der Dialog unter den
Repräsentanten der verschiedenen Länder weitergeht. Wir dürfen nie zulassen, dass die
Gesprächsbereitschaft zwischen uns wegen dieser Frage leidet oder gar mit Emotionen
abgewürgt wird. Bedingungen, dass wir schliesslich Lösungen finden können, sind der Respekt
vor der Verschiedenheit der Auffassungen und die Überzeugung, dass viele Konflikte durch
offene Gespräche gelöst werden können.
Der demokratische Miteinbezug der Meinungen aller Beteiligten, die strengen Regeln für den
Schutz der Minderheiten und das unermüdliche Bemühen um Kompromisslösungen - das waren
die wichtigsten Instrumente im Aufbau unserer Schweiz. Auch Sie können heute mithelfen,
neue Herausforderungen zu bewältigen, die im Zusammenleben der Kulturen, Religionen und
Traditionen unweigerlich entstehen. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!
Nationalratspräsidentin Christine Egerszegi
APD/Quelle: Neue Zürcher Zeitung (NZZ) am Sonntag, 15.07.2007