02.06.2007
Irak: unerwartete Wendung bei den Gewalttaten gegen Christen im Irak
BF, 11. 5. 2007 - Es war im Jahr 1999, als ich Dora zum ersten Mal besuchte, einen Bezirk in
Bagdad der viele Jahrhunderte lang vorwiegend von Christen bewohnt wurde. Bei einem Besuch
in Mehrfamilienwohnhäusern sah ich die entsetzliche Armut der christlichen Gemeinschaft. Wie
der Großteil der irakischen Bevölkerung litten sie unter den Auswirkungen der UN Sanktionen.
Zusätzlich mussten die Christen noch mit der Feindseligkeit der Muslime zurechtkommen, die
die Christen für die Sanktionen des Westens und die dadurch verursachten und bereits
unerträglich gewordenen Entbehrungen verantwortlich machten. Die Feindseligkeiten wurden
damals noch durch das enge Sicherheitsnetz von Saddams Regime in erträglichen Grenzen
gehalten.
Nehmen Sie meinen letzten Sohn mit!
In Begleitung eines Regierungsdolmetschers rief ich eine gläubige Frau und ihren
halbwüchsigen Sohn an, um meinen Besuch anzukündigen. In ihrem Wohnzimmer gab es nur
einen Tisch und einige Stühle - alles sonst war verkauft worden, um überleben zu können. Als
wir eintraten, sprach sie mit dem Dolmetscher und begann dann zu weinen. Ich erfuhr, dass sie
ihn bat, ich solle auf meinem Rückflug nach Großbritannien ihren Sohn mitnehmen. "Ich hatte
sechs Söhne", erklärte sie. "Die fünf Ältesten sind alle gestorben weil sie in Saddams Kriegen [dem Iran-Irak Krieg der 1980er und den Golfkrieg von 1990-91] gekämpft haben. Mein Mann
starb auch im Militärdienst. Nächstes Jahr wird mein jüngster Sohn alt genug sein, um
einberufen zu werden, und sehr wahrscheinlich wird auch er umkommen!"
Diese Frau sprach mit großem Mut, denn sie wusste genau, dass der Dolmetscher dem
Nachrichtendienst alles berichten würde. Ich konnte nichts tun, um ihr zu helfen, es war
unmöglich, dass ich ihren Sohn mitnehme. Was ist aus ihr und ihrem Sohn und aus anderen
Christen wie sie geworden, die ich bei meinen verschiedenen Besuchen im Irak kennen gelernt
habe?
Bezahle oder bekehre Dich oder verschwinde oder stirb!
Seit dem Krieg im Jahr 2003 hat die Feindseligkeit gegen Christen im Land unermesslich
zugenommen. Es gibt nicht mehr die starke Hand Saddams, um die Männer daran zu hindern,
nach Lust und Laune Gewalttaten zu verüben. Als Antwort auf die rasant angewachsene Gewalt
gegen Christen ist eine riesige Anzahl irakischer Christen geflüchtet. Einige haben eine andere
Möglichkeit gewählt und sind Moslems geworden. Es ist fast schon unmöglich, in Bagdad
weiterhin als Christ zu leben.
Viele Christen in Dora sehen sich jetzt mit Forderungen nach der traditionellen islamischen
Steuer auf nicht-muslimische Minderheiten, der "jizya", konfrontiert. Die wird ihnen nicht von
der Regierung, aber von islamistischen Aufständischen auferlegt, die in Dora ohne jedwede
Behinderung durch irakische oder amerikanische Streitkräfte, ihr Unwesen treiben.
Gemäß der "shari ´a" ,dem islamische Gesetz, haben Christen die Wahl zwischen der Zahlung
von Geld (das aber bloß dazu verwendet wird, um die Aufständischen zu finanzieren), zum
Islam zu konvertieren, das Land zu verlassen oder getötet zu werden. Die Forderung wird
entweder als schriftliche Benachrichtigung in ihr Haus geliefert oder diese militanten Islamisten
klopfen an die Tür. Manchmal erhält man keine Möglichkeit, die "jizya" zu bezahlen. Dann gibt
es nur die Wahl zwischen Bekehrung zum Islam, innerhalb von 24 Stunden die Häuser zu
verlassen, wobei man von den Militanten ergriffen werden kann oder getötet zu werden.
Christen in Mossul haben sich ebenfalls mit Forderungen nach Bezahlung der "jizya"
konfrontiert gesehen. "Wir sind nicht hier, um Sie zu schützen!" sagte ein amerikanischer
Kommandant. Eine im Westen befindliche irakische christliche Organisation verlangte in einem
Brief vom 11. Mai 2007 vom UN- Generalsekretär Ban Ki-Moon sehr eindringlich, sowohl die
US-amerikanische als auch die irakische Regierung zu bitten, die Minderheiten im Irak zu
schützen und für friedliche Koexistenz zu sorgen.
Das erinnert mich an einen späteren Besuch in Bagdad, als ich mit einem Pastor in seiner
Gemeinde am Marktplatz im Zentrum saß, einem Gebiet, das seither schrecklich unter heftigen
Bombardements gelitten hat. Er berichtete mir, wie die Christen systematisch angegriffen
wurden, und wie er den lokalen amerikanischen Kommandanten besucht hatte, um ihn um
Schutz für die Christen zu bitten. Die Antwort, die er bekam, war: "Wir sind nicht hier, um euch
zu schützen!" Gemeinsam mit anderen Gemeindeleitern suchte er den ranghöheren
amerikanischen General mit derselben Bitte auf. Aber der General schickte sie einfach zu dem
lokalen Kommandanten zurück, der seine Erklärung wiederholte, "wir sind nicht dazu da, um
euch zu schützen!"
Die christliche Gemeinschaft im Irak ist ungeschützt und verwundbar zurückgelassen worden.
Letztes Jahr besuchte ich den amerikanischen Kongress und sprach mit älteren Beamten. Ich
sprach auch mit leitenden US-Militärs im Irak. Ich erörterte die Zukunft der christlichen
Gemeinschaft im Irak, die sich mit Völkermord durch die Hände von militanten Islamisten
konfrontiert sieht, die entschlossenen sind, die Anwesenheit von Christen im Irak zu beenden.
Ich bekam wieder die gleiche Antwort zu hören: "Wir können die Christen nicht schützen."
Wenn sich die Koalitionsmächte weigern, die christliche Gemeinschaft zu schützen, wenn sie
einen Diktator stürzen, um die Demokratie zu errichten, aber wenn diese Demokratie nur zur
Einführung der Schari´a, zu ethnischer Säuberung, zu Enteignung von Eigentum und letztlich
zu Völkermord an einem Teil der Gemeinschaft führt, dann müssen die Koalitionsregierungen
die moralische Verantwortung für eine Tragödie tragen, die sie zugelassen haben.
Christen können dabei nicht zusehen und erlauben, dass dieser Völkermord stattfindet, wie wir
es vor einem Jahrhundert während des Völkermordes an den Armeniern in der Türkei taten,
während des sudanesischen Bürgerkrieges, der bis jetzt zwei Millionen hauptsächlich christliche
Bewohner des südlichen Landesteils dahingerafft hatte, als er im Jahr 2005 endete.
Christen können ihre Brüder und Schwestern im Irak nicht opfern. Weder politische
Zweckmäßigkeit noch Unterstützung für richtige oder falsche Entscheidungen unserer eigenen
Regierungen noch das Ziel des interreligiösen Dialoges mit dem Islam können Vorrang vor der
verzweifelten Not unserer Mitchristen haben. Es kommt eine Zeit, in der Christen in Solidarität
zu ihren Geschwistern stehen, für sie sprechen und für Gerechtigkeit und Rechtschaffenheit
eintreten müssen.
Dr. Patrick Sookhdeo
Internationaler Direktor, Barnabas Fund
11. Mai 2007