07.02.2008
Türkei: Angeklagter bestreitet geplante Ermordung der drei Christen in Malatya
Mutmaßlicher Anführer schwer belastet – Witwe will Täter im<br />Gefängnis besuchen
Türkei: Angeklagter bestreitet geplante Ermordung der drei Christen in Malatya
Mutmaßlicher Anführer schwer belastet – Witwe will Täter im
Gefängnis besuchen
ISTANBUL, 29. Januar 2008 - Im Prozess um die Ermordung von drei Christen im
osttürkischen Malatya hat am 14. Januar ein Angeklagter heftig bestritten, die Morde seien
geplant gewesen. Am 18. April 2007 wurden der Deutsche Tilmann Geske (46) und die Türken
Pastor Necati Aydin (36) und Ugur Yuksel (32) in den Räumen des christlichen „Zirve“-
Verlages von jungen Türken gefoltert und umgebracht. Die fünf nach der Tat verhafteten 19-
und 20-jährigen muslimischen Männer trugen Zettel bei sich, auf denen sie erklärten: „Das soll
den Feinden unserer Religion eine Lehre sein. Wir haben es für unser Land getan.“ Der
Angeklagte Hamit Ceker sagte aus, die Situation in den Räumen des Verlages hätte sich
verschärft, als Necati Aydin, Pastor einer kleinen protestantischen Gemeinde in Malatya,
erklärte: „Wir alle sind Kinder von Jesus." Ceker selbst und weitere Männer, so Hamit Ceker,
hätten versucht, ihren Anführer Emre Gunaydin dazu zu bringen, die Männer gefesselt
zurückzulassen und zu fliehen. Doch Gunaydin habe entgegnet: „Nein, sie kennen mich jetzt.
Ich gehe nicht, ohne sie zu töten."
Täter wollten Beweise gegen Christen sammeln
Ceker schilderte auch die letzten Stunden der beiden ehemaligen Muslime und ihres deutschen
Kollegen. Emre Gunaydin, der Hauptverdächtige, soll Geske und Aydin die Kehlen
aufgeschlitzt haben. Obwohl Ceker aussagte, sie hätten Schusswaffen, ein Seil und jeder ein neu
gekauftes Messer sowie Gummihandschuhe und ein islamisches Jawshan (Schreiben mit einem
Schutzgebet) bei sich gehabt, wollten sie lediglich belastende Beweise gegen die Christen
sammeln, nicht sie zu töten. Wie Yuksel starb, wisse er nicht. „Ich hörte ihn nur ´Jesus!´ rufen",
so Ceker. Ceker öffnete der Polizei die Tür zum Verlag und ergab sich, während Gunaydin sich
mit einem Sprung aus der zweiten Etage retten wollte. Er verletzte sich dabei schwer. Necati
Aydin und Tilmann Geske waren bereits tot. Ihre Körper wiesen mehrere Stichwunden auf.
Yuksel starb Tage später in einem Krankenhaus.
Angeklagter lockerte die Fesseln
Beim Kreuzverhör durch seinen Verteidiger behauptete Ceker, er sei von Gunaydins Drohungen
eingeschüchtert worden, ihm und seiner Familie etwas anzutun, wenn er nicht helfen würde,
christliche Missionstätigkeiten in Malatya zu stoppen. Gunaydin sei dafür bekannt, enge
Beziehungen zum Polizeichef zu haben, so dass Ceker den Plan nicht der Polizei meldete. Er
bestätigte, dass die Gruppe am frühen Morgen des Tattages „Dankgebete" gesprochen hätte,
doch habe er weder die Bedeutung dieses Rituals gekannt, noch warum sie es ausführten. Auf
die Frage seines Anwalts, ob er den auf dem Boden gefesselten Männern geholfen habe,
behauptete Ceker, er habe die Handfessel von Yuksel gelockert und ihm ein Päckchen unter den
Kopf geschoben. Nach Cekers Bemerkungen, zu denen es kurz vor Schluss der zehnstündigen
Anhörung kam, rief die Nebenklägerin Semse Aydin, die Witwe von Necati Aydin, im
Gerichtssaal: „Sie gingen dort hin, um unsere Männer zu töten, und dann sagen sie, sie hätten
etwas getan, um es ihnen bequem zu machen! Das ist verachtenswert!" Nach einem weiteren
Protest wurde die Witwe aus dem Saal gewiesen, doch später wieder eingelassen.
Gunaydin: Christliche Aktionen gefährden den Islam
Vor Cekers Aussage sagten zwei Angeklagte einzeln aus, nachdem die weiteren Angeklagten
den Saal verlassen hatten, um zu verhindern, dass sie die Aussagen gegenseitig beeinflussen.
Kursat Kocadag zufolge hatte Gunaydin ihm und anderen gegenüber geklagt, es gäbe 49
Hausgemeinden in Malatya und die christlichen Aktivitäten seien eine große Bedrohung für den
Islam und die türkische Gesellschaft. Er habe Kocadag ein Buch mit dem Titel „Mehr als ein
Zimmermann" gezeigt und erklärt, dass dieses „Allah, unseren Propheten und unser Buch
verleumdet". Ebenso wie Ceker bestritt Kocadag, gewusst zu haben, auf wen sich Gunaydin
bezogen haben könnte, als er von den „Anderen" sprach, die den Anschlag gegen Missionare
unterstützen und fördern würden. Der weitere Angeklagte, Mehmet Gokce, Sohn eines
Polizisten des Ortes, will kaum Kontakt mit Gunaydin gehabt haben. Seine Familie wohnt
gegenüber von Gokces Computerladen. Gunaydin habe ihn nur gefragt, ob er ihm helfen könnte,
eine Festplatte mit Informationen über Missionare zu kopieren.
Witwe will Angeklagte im Gefängnis besuchen
Zum ersten Mal konnten Yuksels Mutter und sein betagter Vater, der einige Monate nach der
Ermordung seines jüngsten Sohnes einen schweren Schlaganfall erlitt, am Prozess teilnehmen.
Zeitungen berichteten, Susanne Geske und ihre Kinder, die weiterhin in Malatya leben, wollen
die Angeklagten im Gefängnis besuchen. „Wir möchten die Mörder treffen, aber ich warte die
richtige Zeit ab", sagte sie. „Meine Kinder fragen immer: ´Wann gehen wir zu ihnen?“ Susanne
Geske wiederholte, dass sie nicht daran glaube, dass das Blutbad nur von den fünf Angeklagten
geplant worden sei. „Ich möchte wissen, wer diese fünf Leute darauf angesetzt hat; ich möchte
die finden, die dahinter stecken", sagte sie. Orhan Kemal Cengiz, der das Anwaltsteam der
Nebenkläger leitet, findet es unerlässlich, die hinter dem Anschlag Stehenden zu identifizieren.
Nach der Anhörung sagte er dem Informationsdienst Compass Direct, er und seine Kollegen
seien "irritiert und sehr zornig" über die Ermittlungsarbeit der Staatsanwaltschaft und die
juristische Behandlung des Falles. Insbesondere soll das Gericht es abgelehnt haben, ihnen
Beweise aus den Akten der Staatsanwaltschaft auszuhändigen, die äußerst wichtig seien, um
„die Angeklagten richtig zu befragen". Abgelehnt wurden auch Anträge auf die Entfernung von
16 Ordnern mit Informationen über die religiösen Aktivitäten der drei Christen sowie die
Zulassung der Videofilme aus den Überwachungskameras im Krankenzimmer Gunaydins. Den
Anwälten zufolge hat die Polizei die Bänder absichtlich nicht innerhalb der vorgeschriebenen 24
Stunden eingereicht. Berichten zufolge haben Polizeibeamte unter Missachtung aller
forensischen Verfahrensweisen alle blutbefleckten Kleidungsstücke der Verdächtigen
zusammen in einen Behältnis an das Kriminallabor von Ankara geschickt und es damit
unmöglich gemacht zu unterscheiden, wer das Blut welches Opfers auf seiner Kleidung hatte.
Gegen Ende der letzten Anhörung forderten die Anwälte der Nebenkläger die Einbeziehung der
polizeilichen Ermittlungsakten mit Bezug auf Necati Aydins Schwager, einem Pastor in Izmit.
Berichten zufolge hatte Gunaydin geschworen, ihn nach den Malatya-Morden zu töten.
Internationale Beobachtung
Die Anhörung vom 14. Januar wurde auch von der internationalen Presse und Vertretern von
zwei Menschenrechtsorganisationen, einem deutschen Diplomat und einigen Leitern der
türkischen Allianz protestantischer Kirchen beobachtet. Dr. Zafer Uskul, Leiter des türkischen
Parlamentsausschusses für Menschenrechte, sagte Journalisten: „In der Türkei hat jeder die
Religions- und Glaubensfreiheit." Er räumte jedoch ein, die Gesellschaft müsse toleranter sein.
Das Gericht will die Verhöre der übrigen vier Angeklagten am 25. Februar fortsetzen. Das
Blutbad von Malatya ist der dritte tödliche Angriff auf die kleine christliche Minderheit in der
Türkei in den vergangenen beiden Jahren. Der italienische katholische Priester Pater Andrea
Santoro wurde im Februar 2006 erschossen. Am 19. Januar 2007 folgte der Mord an dem
armenisch-christlichen Redakteur Hrant Dink vor seinem Büro in Istanbul.
Compass Direct