27.12.2008

Leitartikel: Marokkos unsichtbare Kirche

Viele Bürger treten zum Christentum über, dürfen ihren neuen Glauben aber nicht zeigen Von Ilya U. Topper

Leitartikel: Marokkos unsichtbare Kirche

Viele Bürger treten zum Christentum über, dürfen ihren neuen Glauben aber nicht zeigen

Von Ilya U. Topper

Rabat/Welt Online – 27. Dezember 2008, 01:52 Uhr - Die Weihnachtsfeier ist geheim: ein Haus in Casablanca, dessen Adresse nicht preisgegeben wird. Einige Dutzend Leute werden erwartet, man wird christliche arabische Lieder singen, die Bibel lesen und beten. Möglichst leise. Denn die Nachbarn werden kaum verstehen, dass man Marokkaner und Christ zugleich sein kann. "Wir leben wie die frühen Christen", sagt Ahmed F., der oft solche Versammlungen organisiert. Diesmal will er riskieren, Journalisten mitzubringen, obwohl niemand unter den Gläubigen seinen Namen gedruckt sehen möchte. Selbst Telefonkontakte stoßen auf großes Misstrauen. In letzter Minute ist Ahmed verhindert. Wer nicht schon einmal dabei war und die Adresse kennt, muss Weihnachten allein feiern. 

"Es ist wie unter den Römern: Der Gottesdienst wird immer zu Hause abgehalten", sagt auch Abdelhalim B., ein etwa 40-jähriger Marokkaner, der während seines Studiums in Europa zum Protestantismus übertrat.  Abdelhalims Wohnzimmer in der Küstenstadt Kenitra dient der kleinen örtlichen Gemeinde als Kirche. Nur ein kleines gesticktes Kreuz an der Wand und ein paar weihnachtliche Engel weisen darauf hin. "Wir brauchen keine Äußerlichkeiten, wichtig ist die Lehre", sagt Abdelhalim.

Fast kein marokkanischer Christ geht in eine der offiziellen Kirchen, die es in fast jeder Stadt gibt: Niemand will erkannt werden. Die freie Ausübung des Glaubens ist zwar in der Verfassung verankert, doch auf den Kirchenbänken sieht man fast nur Europäer und Einwanderer aus afrikanischen Staaten. Es kommt vor, dass Marokkaner an der Kirchentür von der Polizei angehalten und ausgefragt werden, sagt Jean Luc Blanc, evangelischer Pfarrer in Casablanca, selbst wenn sie nur zum Begräbnis eines christlichen Freundes kämen. Dabei ist es nicht verboten, Christ zu sein, nur Missionieren ist untersagt: Wer "einen Muslim in seinem Glauben zu erschüttern oder ihn zum Übertritt zu einer anderen Religion zu bewegen versucht", kann zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt werden.

Das Gesetz wird selten angewandt, zuletzt gegen Sadek Noshi Yassa, einen Deutsch-Ägypter, der 2006 in Agadir verhaftet wurde, weil er Bibeln und CDs an Jugendliche verteilte. Aber, versichert Abdelhalim, natürlich sei der Polizei bekannt, wer Christ sei. "Doch solange wir uns nicht sichtbar machen, haben wir keine Probleme." Dahinter steht die Angst vor den islamischen fundamentalistischen Bewegungen: Würden die Übergetretenen offiziell als Christen anerkannt, würde die islamistische Presse Sturm laufen gegen die "ketzerische" Regierung.

Die Scharia, die in Marokko nicht angewandt wird, sieht für den Abfall vom Glauben eigentlich die Todesstrafe vor. Daher versucht der Staat, die Debatte einfach zu umgehen. Allerdings seien die Sympathien klar, meint Abdelhalim: "Im Gegensatz zu den Islamisten stellen wir keine Gefahr für den Staat dar: Wir sind königstreu und fühlen uns voll als Marokkaner." Hinter den Kulissen gebe es viele Kontakte. "Kürzlich hielten wir für unsere Gemeinde ein Seminar über Aids-Vorbeugung ab, die Polizei rief mich später an, um mir zu sagen, wir sollten doch ein ähnliches Seminar für Muslime organisieren", sagt Abdelhalim. "Wir lassen dazu Experten aus Ägypten kommen, protestantische Kopten. Außerdem machen wir Sozialarbeit mit Armen, Workshops für Behinderte, gesundheitliche Versorgung, immer in Zusammenarbeit mit der Regierung."

Wie wird man Christ, wenn es kaum Missionare gibt? Eine große Rolle spielen christliche TV-Stationen, die arabische Programme ausstrahlen, wie al-Hayat, Sat 7 oder Miracles und viele Radiosender, fast immer von nordamerikanischen protestantischen Kirchen finanziert. Al-Hayat sendet von Zypern aus, die Belegschaft besteht größtenteils aus ägyptischen Kopten. "Im Programm wird eine Telefonnummer mitgeteilt, wenn man dort anruft, wird geprüft, ob man tatsächlich ein tiefes Interesse an Christus hat, und später bekommt man Kontakt zu anderen Christen."

So erging es Ahmed F. "Ich kannte das Christentum aus dem Radio und weil ich sehr viel las. Ich trat 1982 über, aber ich dachte jahrelang, ich sei der einzige marokkanische Christ. Später half mir der Radiosender, Kontakt zu anderen Glaubensbrüdern zu bekommen." Eine klare Hierarchie gibt es in diesen protestantischen Kirchen nicht. "Allerdings lassen wir oft studierte Theologen aus anderen Ländern kommen, damit sie uns unterweisen", sagt Abdelhalim. Bibeln und Gesangbücher könne man in manchen Buchläden kaufen oder über die anerkannten Kirchen beziehen. Allerdings lernen die Kinder rasch, ihren Glauben vor den Schulkameraden zu verbergen.

Genaue Angaben über die Zahl der marokkanischen Christen liegen nicht vor. Laut Abdelhalim gehören etwa 1500 zu dem Netz, das regelmäßig Versammlungen abhält, allerdings dürfte es weitere Familien geben, die sich aus Angst nicht zu erkennen gäben. "Es gibt sieben Hauskirchen in Casablanca, acht in Marrakesch und mindestens eine in fast jeder marokkanischen Stadt, von Tanger bis zum Rand der Wüste", sagt er.

Bestimmte amerikanische Webseiten beziffern die Übertritte auf jährlich 3000 bis 3500. Für Jean Luc Blanc, Pfarrer der protestantischen Kirche in Casablanca, ist das übertrieben. "Vielleicht treten wirklich Tausende über, aber die meisten geben nach ein paar Monaten wieder auf. Eher stimmt die halboffizielle Schätzung der Regierung, nach der es insgesamt zwischen 800 und 1000 Übergetretenen gibt", sagt Jean Luc. "Wir wollen keine Mission treiben, aber wir wollen, dass die Glaubensfreiheit anerkannt wird", sagt der Pfarrer. Denn noch könne man verurteilt werden, wenn man an den falschen Richter geriete: "Es kommt ganz auf die Auslegung des Gesetzes an, manche Juristen sind der Ansicht, sich als christlicher Marokkaner zu bekennen, erschüttere bereits den Glauben der Bürger."

Juden haben mehr Rechte

 

Mit gewissem Neid schauen die christlichen Marokkaner auf ihre jüdischen Mitbürger: Diese sind als Minderheit offiziell anerkannt, brauchen ihren Glauben nicht zu verbergen und dürfen sogar im Ramadan öffentlich essen.

Eine ähnliche Regelung schwebt manchen Christen vor. Ahmed F. träumt davon, eine "Nationalkirche" zu errichten. "Marokko war christlich, bevor der Islam kam, doch leider gab es damals keine organisierte Kirche, daher verlor sich der Glauben. Das wollen wir jetzt vermeiden", sagt der Berber aus dem tiefen Süden. Ganz verloren ist die Erinnerung allerdings nicht: In vielen berberischen Dörfern ist noch bekannt, dass man vor Jahrhunderten Christ war, manche Volkslieder beziehen sich auf die Auferstehung Jesu, und in einigen Koranschulen haben die Kinder donnerstags - statt freitags - frei, "denn so hat es Jesus gelehrt". So ist der Übertritt für manche Berber eine Rückkehr zu den eigenen Wurzeln.

Wie sieht die Zukunft aus? Abdelhalim hofft, dass die wirtschaftliche Entwicklung Marokkos die Glaubensfreiheit begünstigt. Die kleinen Gemeinden sind umtriebig: Es gibt Fortbildungskurse für christliche Familien, theologische Seminare und sogar Treffen, bei denen sich ledige Christen kennenlernen können. Denn wie soll man sonst heiraten?

Mischehen sind zwar möglich, aber von der Regierung nicht anerkannt: Wer eine Marokkanerin heiraten will, muss Muslim sein oder werden. Selbst wenn die Marokkanerin sich zum Christentum bekennt. Für Christen ist Unsichtbarkeit oberste Bürgerpflicht.

URL: www.welt.de/welt_print/article2935192/Marokkos-unsichtbare-Kirche.html