14.06.2009

Leitartikel: Kein Hinterzimmer fürs Religiöse

FR - 14. Juni 2009 -  José Casanova gilt weltweit als einer der führenden Religionssoziologen. Im FR-Interview spricht er über Rechtsformen und postsäkulare Gesellschaften.

Herr Casanova, zurzeit fahren Busse durch Europa mit der Werbeaufschrift: Es gibt keinen Gott. Es scheint, als wollten die Initiatoren den Versuch unternehmen, dem Atheismus eine eigene Art von Leidenschaft einzuhauchen. Ist Atheismus eine Glaubensart?

Der Atheismus ist eine Weltanschauung. Das Interessante besteht für mich allerdings nicht in der Formulierung: Es gibt keinen Gott. Bemerkenswert ist vielmehr die implizite Aufforderung: Du sollst Dich vergnügen. Dabei wird angenommen, dass es sich bei Religion immer um eine asketische Veranstaltung handelt. Weil Religion als eine Art der Selbstverleugnung angesehen wird, sollen wir besser ohne Gott auskommen. Das widerspricht aber der Vielfalt der religiösen Erfahrung. Religion ist vielmehr eine Möglichkeit, menschlich zu sein. Es geht dabei natürlich auch um die Fragen der Immanenz und Transzendenz.

Sie haben wiederholt geschrieben, dass Europa nicht nur nachchristlich, sondern nachsäkular werden müsse. Was verstehen Sie darunter?

Mit nachsäkular meine ich nicht, dass die Leute zwangsläufig wieder religiös werden. Es geht vielmehr um ein reflexives Bewusstsein davon, dass die Frage, ob man religiös oder säkular ist, eine freiwillige Entscheidung ist. Wir Europäer sind säkular geworden, weil wir dachten, dass modern zu sein zugleich bedeutet, säkular zu sein. Ferner glaubten wir, dass die Religion mit Modernität allmählich verschwindet. Das ist aber nicht der Fall. Unter dem Begriff des Nachsäkularen verstehe ich, dass man die Religion nicht dem Vormodernen zuschlägt und das Säkulare als einen Endzustand betrachtet. Das Säkulare und das Religiöse beschreiben zwei mögliche Seinsweisen in der Moderne. Es gibt keinen Automatismus, der in die Säkularität führt. Alles ist möglich.

Sie haben oft beklagt, dass insbesondere in Europa die Religion ins Privatleben abgeschoben wird, und plädieren für eine öffentliche Religion. Wie soll man sich das vorstellen?

Ich habe das Modell der Privatisierung der Religion kritisiert. In Europa vollzog sich dieser Prozess in der Institution Kirche. Die Trennung von Kirche und Staat implizierte auch die Trennung von Religion und Politik. Wenn man aber die Öffentlichkeit im Sinne von Habermas als einen Ort des Diskurses versteht, in dem um die normativen Positionen gerungen werden muss, dann sehe ich nicht, dass ein religiöser Diskurs aus der Öffentlichkeit herausgehalten werden kann.

Verliert ein Glaube, der öffentlich legitimiert werden muss, nicht an seiner ursprünglichen Kraft und Bedeutung?

Es geht nicht um die Legitimation des Glaubens oder des Nichtglaubens. In einer partizipatorischen Zivilgesellschaft kann es kein Hinterzimmer fürs Religiöse geben.

In Europa ist man sehr stolz auf die Tradition der Aufklärung, deren zentraler Bestandteil die religiöse Toleranz ist. Diese wird jedoch in den verschiedenen Ländern sehr unterschiedlich aufgefasst. Die Trennung von Kirche und Staat wird sehr verschieden gehandhabt. Wie wichtig ist diese Trennung für das europäische Modell?

Wir sprechen von der Aufklärung im Singular, aber ich bestreite, dass es die eine Aufklärung gegeben hat. Die französische Aufklärung unterscheidet sich von der deutschen und diese sieht anders aus als die britische oder die amerikanische. Man darf dabei nicht unterschlagen, dass die amerikanische Unabhängigkeit ein Kind der Aufklärung ist. Aber die amerikanische Aufklärung ist nie gegen die Religion aufgetreten, sondern war von ihr von Beginn an durchdrungen. Wenn man die amerikanische Erfahrung betrachtet, dann gibt es zwei prägende Grundsätze: unbedingte Gleichheit und freie Ausübung von Religion. Wichtig für die Lebensfähigkeit der Demokratie ist der zweite Grundsatz. Während es in der Demokratie sehr wohl Ungleichheit geben kann, gibt es ohne Religionsfreiheit keine Demokratie. Das heißt aber nicht, dass es notwendig einer Trennung von Kirche und Staat bedarf.

Was bedeutet das in der Praxis? Ist es künftig vorstellbar, dass sich islamische Gesellschaften demokratisieren und zugleich die Rechtsform der Scharia beibehalten?

Es hängt davon ab, wie man Scharia definiert. Wenn die Scharia zu einer staatlichen Rechtsform erhoben wird, dann wird es schwierig. In den meisten muslimischen Ländern ist die Scharia jedoch aufs Familienrecht ausgerichtet, keineswegs aber aufs Straf- oder Zivilrecht. Die Scharia ist eher mit dem Naturrecht in den christlichen Zivilisationen zu vergleichen. Es wird darauf ankommen, dass sich ein positives Recht neben der Scharia entfalten kann.

In Deutschland wurde kürzlich heftig über den Hessischen Kulturpreis gestritten, mit dem eigentlich die Idee des Dialogs und der Toleranz feierlich begangen werden sollte. Was ist dabei über das kommunikative Desaster hinaus schiefgegangen?

Ich habe den Konflikt nicht im Detail verfolgt. Navid Kermani hat etwas über das Kreuz gesagt, das die christlichen Vertreter als problematisch aufgefasst haben. Ich finde es sehr gut, dass wir solche Diskussionen haben. Ich kann daher nicht verstehen, warum der Preis daraufhin zurückgenommen wurde. Ich betrachte derlei Kontroversen als einen Prozess der Verständigung über unsere gesellschaftlichen Normen. Wenn der Papst in Regensburg etwas Dummes über den Islam sagt, dann hat er damit doch vor allem eine öffentliche Diskussion über den Islam ausgelöst. Wir befinden uns da in einem Prozess der gegenseitigen Wahrnehmung.

Es sind immer noch die religiösen Zeichen, die heftige Kontroversen auslösen. Warum enthalten Kopftuch und Kreuz so viel Zündstoff?

Es geht dabei immer um das, was der französische Soziologe Emile Durkheim über das Sakrale gesagt hat. Die Leute reagieren immer empört, wenn etwas Sakrales profaniert wird. Im dänischen Karikaturenstreit ist ein sakrales Symbol profaniert worden. Wir Europäer haben umgekehrt empört darauf reagiert, dass unser Sakrales, die Meinungsfreiheit, in Frage gestellt wurde. Es geht aber nicht um Profanierung, sondern um den Wettstreit zweier sakraler Prinzipien. Die wichtigste Herausforderung besteht darin zu lernen, worin das Sakrale der jeweiligen Gruppe besteht. In der westlichen Welt traut sich mit Ausnahme einiger Rechtsradikaler niemand, antisemitische Karikaturen zu publizieren. Dazu braucht es gar keine Zensur oder Paragraphen oder Holocaustleugnung. Es ist vielmehr eine Frage des Respekts. Anstelle der Zensur wird es in modernen Gesellschaften auf souveräne Formen der Selbstbeschränkung ankommen.

Interview: Harry Nutt

Zur Person

José Casanova ist Professor an der Georgetown University in Washington D.C. und leitet das Programm des Berkley Centers für Globalisierung, Religion und Säkularismus. Er gilt weltweit als einer der führenden Religionssoziologen.

Sein Buch "Public Religions in the Modern World" wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt. Er forscht über Religion im Spannungsfeld der Globalisierung sowie der Dynamik zwischen transnationalen Religionen und Migration. Im Verlag Berlin University Press erschien soeben "Europas Angst vor der Religion".

An diesem Wochenende nimmt Casanova an der Konferenz der Heinrich Böll-Stiftung teil, die unter dem Titel "Religion Revisited" über Frauenrechte und die politische Instrumentalisierung von Religion debattiert. www.boell.de

Im Haus der Kulturen der Welt in Berlin findet parallel dazu außerdem die Tagung "Beyond Multiculturalism" statt, die am gestrigen Freitag von dem Anthropologen Arjun Appadurai eröffnet wurde. www.hkw.de