24.11.2009

EU: Einmischung des Europäischen Gerichtshofes in Angelegenheiten der Kirche

Medrum, 24.11.09 - Die Republik Italien wurde vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zur Zahlung eines Schadensersatzes verurteilt, weil es die italienischen Gerichte ablehnten, in die Autonomie kirchlicher Entscheidungen einzugreifen. Eine katholische Universität (Mailänder Università Cattolica del Sacro Cuore) hatte es sich erlaubt, den Vertrag eines Dozenten nicht weiter zu verlängern, weil er Lehren vertrat, die zentralen Aussagen der Katholischen Kirche widersprachen. Nach der Lehre des klagenden Professors war Jesus ein durch und durch schlechter und böser Mensch. Nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte müssen die Kirche und ihre Mitglieder offenbar jede Art von Lehre hinnehmen, auch wenn diese das Gegenteil von dem verkündet, was Herzstück des katholischen Glaubens und Lehre der Kirche ist. Der Verfasser des Artikels, Jakob Cornides, kommt zu dem Schluß: "Insofern weist der Versuch des Straßburger Gerichts, das Lehramt der katholischen Kirchen seiner eigenen Jurisdiktion zu unterstellen, den Weg in eine neue Form des Totalitarismus."

Hier die Meldung der Tagespost vom 24.11.2009:

Wer hat das letzte Wort: Staat oder Kirche? 

Richterlicher Laizismus: Der Straßburger Menschenrechtsgerichtshof verurteilt Italien, weil dessen Gerichte die Autonomie kirchlicher Personalentscheidungen respektieren. Muss die Kirche Auskunft darüber geben, wenn sie einen Kandidaten für ein kirchliches Amt ablehnt?

Von Jakob Cornides  

Professor Luigi Lombardi Vallauri lehrte zwanzig Jahre lang an einer katholischen Universität Rechtsphilosophie. Dann fiel er vom christlichen Glauben ab und macht seither mit religionskritischen Thesen von sich reden. Diese bewegen sich keineswegs nur im Rahmen der heute auch im katholischen Milieu häufig zu vernehmenden Klagen über „Pflichtzölibat", „unbarmherzige Dogmen" und „Frauenfeindlichkeit", sondern greifen das Christentum in seinem Kernbestand an: die Erbsünde beispielsweise sei „eine bloße Erfindung", die „dazu diene, die Notwendigkeit der Taufe zu begründen". Eine Hölle, in der Sünder ohne zeitliche Beschränkung für ihre Sünden büßen müssen, passe nicht zur Vorstellung eines guten und gerechten Gottes. Jesus sei „von der Idee der Hölle wie besessen gewesen", das Evangelium „keine Frohbotschaft, sondern die schlimmste Botschaft, die der Menschheit jemals verkündet wurde". In bewusstem Gegensatz zu anderen Kritikern, die die Kirche beschuldigen, die frohe Botschaft Jesu verfälscht zu haben, meint Vallauri: „Falsch. Jesus war ein durch und durch schlechter Mensch."

Natürlich steht es jedermann im Rahmen der allgemeinen Meinungsfreiheit frei, solche Ansichten zu vertreten. Dass sie mit dem christlichen Glauben unvereinbar sind, ist freilich offenkundig, ohne dass man hierfür besonderer theologischer oder philosophischer Kenntnisse bedürfte. Dementsprechend durfte es eigentlich niemanden, am wenigsten aber Professor Lombardi Vallauri selbst, überraschen, dass die Mailänder Università Cattolica del Sacro Cuore den ihm erteilten Lehrauftrag eines Tages nicht mehr verlängerte. Zuvor war sie von der römischen Kongregation für das Bildungswesen schriftlich in Kenntnis gesetzt worden, dass „gewisse von Prof. Lombardi Vallauri vertretene Standpunkte zur katholischen Lehre in einem klaren Gegensatz stehen", weshalb die (gemäß dem Konkordat zwischen dem Heiligen Stuhl und Italien) für jede Bestellung eines Dozenten an dieser katholischen Universität erforderliche Zustimmung nicht mehr erteilt werden könne. Für Lombardi Vallauri war diese Entscheidung übrigens keineswegs existenzbedrohend: Er ist ordentlicher Professor an einer staatlichen Universität in Florenz; seine Tätigkeit in Mailand war eine reine Nebentätigkeit.

„Der Professor lehrte zwanzig Jahre lang an einer katholischen Universität. Dann fiel er vom christlichen Glauben ab und macht seither mit religionskritischen Thesen von sich reden"

Dennoch zog Lombardi Vallauri vor Gericht: zunächst vor das Verwaltungsgericht der Region Lombardei, dann vor das nationale Verwaltungsgericht und, als seine Klage auch dort abgewiesen wurde, vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Dieser hat am 20. Oktober der Beschwerde des Professors stattgegeben und die Italienische Republik wegen Verletzung von Artikel 10 (Meinungsfreiheit) und 6 (Recht auf ein faires Verfahren) der Europäischen Menschenrechtskonvention zu einer Schadensersatzzahlung an den Beschwerdeführer verurteilt.

Die Begründung dieses Urteils enthält bereits in Hinblick auf die bloße Vorfrage, ob der Fall überhaupt in den Anwendungsbereich der Konvention fällt, Befremdliches. In seiner bisherigen Rechtsprechung hatte der Gerichtshof nämlich den Standpunkt vertreten, dass das subjektive Interesse am Abschluss eines Arbeitsvertrages nicht durch die Konvention geschützt sei, weil nur der infolge unerwünschter Meinungsäußerungen eintretende Verlust eines festen Arbeitsplatzes als Verletzung der Meinungsfreiheit problematisiert werden könne. Nun war aber dem Beschwerdeführer keineswegs eine von ihm innegehabte ordentliche Professur entzogen worden, sondern es wurde nur ein auslaufendes Vertragsverhältnis nicht verlängert. Man muss sich fragen, welchen Sinn die bisher unbeanstandet gebliebene jährliche Neuausschreibung des gegenständlichen Lehrauftrages überhaupt haben konnte, wenn einer der Interessenten, nämlich Lombardi Vallauri, offenbar ein subjektives Recht auf die Erteilung dieses Auftrags erworben hatte. Das Argument, der Beschwerdeführer habe zwanzig Jahre lang die Lehrtätigkeit zur Zufriedenheit der Universität erfüllt und sich dabei hohes fachliches Ansehen erworben, überzeugt nicht: Es geht ja offensichtlich nicht um die vergangenen Meriten des Professors, sondern darum, was von ihm nach seinem offenkundigen Gesinnungswandel in Zukunft zu erwarten ist. Davon abgesehen ist auch unklar, inwieweit der (nicht existenzbedrohende, leicht durch andere Tätigkeiten auszugleichende) Verlust einer Nebentätigkeit als Dozent an einer Universität, deren weltanschauliche Gesamtausrichtung er offen bekämpft, als Eingriff in die Meinungsfreiheit des Beschwerdeführers zu bewerten ist.

Für die vom Gerichtshof festgestellte Verletzung der Meinungsfreiheit war allerdings ausschlaggebend, dass „der Fakultätsrat weder dem Beschwerdeführer mitgeteilt, noch eine Begründung vorgelegt hat, in welcher Hinsicht die ihm vorgeworfenen angeblich heterodoxen Ansichten in seiner Lehrtätigkeit zum Ausdruck gekommen und, hiervon ausgehend, inwiefern sie geeignet seien, das Interesse der Universität an einer Lehre im Geist der ihr eigenen religiösen Ausrichtung zu beeinträchtigen". Des weiteren kritisiert der Gerichtshof, dass „der Inhalt dieser (angeblich heterodoxen) Ansichten gänzlich unbekannt geblieben" sei. Außerdem sei die Entscheidung des Fakultätsrats, den Vertrag mit dem Beschwerdeführer nicht mehr zu verlängern, „abgesehen von einem bloßen Hinweis auf den Entzug der erforderlichen Zustimmung durch den Heiligen Stuhl (...) überhaupt nicht begründet". Dem Beschwerdeführer sei somit die Möglichkeit genommen worden, „von dem Zusammenhang zwischen seinen Auffassungen und seiner Aktivität als Universitätslehrer Kenntnis zu erhalten beziehungsweise diesen Zusammenhang zu bestreiten".

Mit anderen Worten: Der Gerichtshof geht davon aus, dass der Beschwerdeführer erstens einen subjektiven Anspruch auf eine Verlängerung seines Vertrags hatte und zweitens ein solcher Anspruch (nur) dann ausgeschlossen wäre, wenn ihm nachgewiesen werden könnte, dass seine umstrittenen Äußerungen ihn gerade für die Tätigkeit als Dozent für Rechtsphilosophie disqualifizieren. Diese Annahmen entsprechen freilich weder der Tatsachen- noch der Rechtslage. Zum einen hatte nicht einmal der Beschwerdeführer selbst behauptet, dass sich aus den früheren, jeweils für die Dauer eines akademischen Jahres abgeschlossenen Verträgen ein Rechtsanspruch auf den Abschluss zukünftiger Verträge ergebe. Zum andern scheint der Gerichtshof die Rechtsnatur der laut Konkordat einzuholenden Zustimmung der zuständigen kirchlichen Behörde zu verkennen. Die einschlägige Konkordatsbestimmung (in Art. 10 Abs. 3 des Übereinkommens vom 18. Februar 1984 über die Revision des Konkordats zwischen dem Hl. Stuhl und der Italienischen Republik) lautet im Originaltext: „Die Ernennung der Dozenten der Katholischen Universität vom Heiligsten Herzen und der abhängigen Institute sind dem Wohlgefallen (gradimento), was das religiöse Profil angeht, der zuständigen kirchlichen Obrigkeit unterworfen."

Wörtlich ist gradimento mit Wohlgefallen oder Zufriedenheit zu übersetzen; beides aber sind ihrer Natur nach höchst subjektive Befindlichkeiten. Sinngemäß bedeutet die Bestimmung, dass die Tätigkeit des Dozenten zur jederzeitigen Zufriedenheit der zuständigen kirchlichen Autorität (also: der Kongregation für das Bildungswesen) auszuüben ist. Nachdem die Vorschrift keine weiteren Beschränkungen und Bedingungen auferlegt, ist die zuständige kirchliche Autorität frei, die erforderliche Zustimmung zu erteilen oder nicht, und sie jederzeit wieder zu entziehen. Es geht nicht darum, ob sich die betreffende Person irgendwelche konkreten Verstöße zuschulden kommen lässt, sondern einzig darum, ob sie nach dem Urteil der kirchlichen Autorität für die in Frage stehende Lehrtätigkeit geeignet ist. Die Zustimmung muss daher auch an unzweifelhaft rechtgläubige Aspiranten nicht erteilt werden. Weder enthält die Bestimmung eine Pflicht, die Erteilung oder den Entzug der Zustimmung ausführlich zu begründen, noch sieht sie eine Nachprüfung dieser Entscheidung durch eine staatliche Behörde vor. Erst recht nicht bleibt die Möglichkeit offen, einen Lehrauftrag an jemanden zu erteilen, für den die kirchliche Zustimmung nicht vorliegt. Die Frage, ob im konkreten Fall die Leugnung der Erbsündenlehre oder der Zweifel an der Existenz der Hölle Professor Lombardi Vallauri gerade für die von ihm angestrebte Funktion als Dozent für Rechtsphilosophie disqualifizieren, stellt sich daher überhaupt nicht. Gewiss ist es denkbar, dass jemand, dessen persönliche Überzeugungen nicht mit der Lehre der Kirche in Einklang stehen, trotzdem eine gute Vorlesung über Rechtsphilosophie halten kann, die auch für die Ohren katholischer Studenten nicht anstoßerregend ist.

Nur waren dem Fakultätsrat der Università Cattolica in dieser Hinsicht die Hände gebunden, weil die zitierte Rechtsnorm überhaupt keinen Ermessensspielraum lässt: Ohne Zustimmung der kirchlichen Autorität konnte der Lehrauftrag nicht erteilt werden. Der Fakultätsrat konnte daher den Beschwerdeführer nur über die Versagung der Zustimmung der kirchlichen Autorität informieren (was er auch getan hat). Eine genauere Auskunft darüber, welche seiner Äußerungen ihn speziell für die Aufgabe als Dozent für Rechtsphilosophie ungeeignet erscheinen ließen, konnte dem Beschwerdeführer schon deswegen nicht erteilt werden, weil das Schreiben der Erziehungskongregation an die Universität, mit dem die Versagung der Zustimmung zur Fortsetzung der Lehrtätigkeit des Beschwerdeführers mitgeteilt wurde, keine weitere Begründung enthielt.

Aber selbst wenn die Kurie ihre Entscheidung ausführlich begründet und die Universität somit in die Lage versetzt hätte, diese Gründe dem Beschwerdeführer mitzuteilen, und selbst wenn die Universität dies getan hätte, so hätte ihm dies nichts genützt: Die vom Straßburger Gericht postulierte Pflicht, die Nichtverlängerung des Lehrauftrages ausführlich zu begründen, ergibt überhaupt nur dann einen Sinn, wenn diese Begründung hernach durch ein Rechtsmittel überprüft werden kann.

„Im Grunde strebt das Urteil nach nichts anderem als nach der Übertragung kirchlicher Entscheidungsbefugnisse an staatliche Organe."

Die zitierte Konkordatsbestimmung lässt aber keine Möglichkeit offen, den Entzug der Zustimmung vor staatlichen Instanzen zu bekämpfen oder den Beschwerdeführer ohne Zustimmung der kirchlichen Behörde weiterhin an der Università Cattolica zu beschäftigen. Insofern scheint es für die von Straßburg geforderte Begründung beziehungsweise für das von ihm verlangte „faire Verfahren" an einem rechtlich geschützten Interesse vollkommen zu fehlen. Wo das behauptete materielle Recht von vornherein nicht bestehen kann, kann es auch kein Recht auf ein Verfahren geben. Der Fakultätsrat der Università Cattolica hat also nichts getan oder unterlassen, was ihm sinnvollerweise zum Vorwurf gemacht werden könnte. Und auch die italienischen Instanzen konnten angesichts der eindeutigen Rechtslage, die überhaupt keinen Ermessensspielraum lässt, nicht anders entscheiden, als sie es getan haben.

Aus alledem folgt, dass hier nicht eine Fehlleistung der italienischen Behörden vor den Kadi gezerrt werden sollte, sondern das von ihnen anzuwendende internationale Recht, also die oben zitierte Konkordatsvorschrift, und – indirekt – eine dritte Partei: die katholische Kirche. Man fragt sich allerdings, wie das Verfahren zur Bestellung von Dozenten an katholischen Universitäten eigentlich aussehen soll, damit es vor den gestrengen Straßburger Richtern in Zukunft Gnade finden kann. Offenbar stellen sich die Richter vor, dass die Entscheidung, einem Bewerber das erforderliche nihil obstat zu versagen, von der römischen Kurie ausführlich und unter exakter Bezugnahme auf die im Rahmen der in Betracht stehenden Dozentenstelle zu vermittelnden Lehrinhalte begründet wird, damit sie hernach in einem arbeitsgerichtlichen oder verwaltungsbehördlichen Verfahren einer Nachprüfung unterzogen werden kann. Die Letztentscheidungsbefugnis läge folglich bei einem staatlichen Gericht oder einer Verwaltungsbehörde (in letzter Instanz vielleicht gar beim EuGHMR selbst), nicht mehr aber bei der kirchlichen Autorität, die auf die Rolle einer bloßen Verfahrenspartei mit mehr oder minder weitgehender Parteistellung reduziert wäre. Im Grunde strebt das Urteil also nach nichts anderem als nach der Übertragung kirchlicher Entscheidungsbefugnisse an staatliche Organe.

Hier schließt sich freilich der Kreis: In einer seiner umstrittenen Äußerungen hatte Lombardi Vallauri die päpstliche Unfehlbarkeit und die Dogmen der Kirche als „eine Ansammlung von Torheiten" bezeichnet; wer jemals daran gezweifelt hätte, dass sich solche Auffassungen auf die Rechtsphilosophie, und diese wiederum auf die juristische Praxis (zumindest aus katholischer Sicht) gefährlich auswirken können, dem bietet gerade das vorliegende Urteil das beste Anschauungsmaterial. Wenn der Papst nicht unfehlbar ist, dann spricht auch nichts dagegen, dass in Zukunft weltliche Behörden die Leitung der Kirche übernehmen; vielleicht können sie es ja besser und sorgen wenigstens dafür, dass die „sinnlosen" Dogmen durch eine demokratisch ermittelte Mehrheitsmeinung ersetzt und von Zeit zu Zeit auf den neuesten Stand gebracht werden. Die Nachprüfung der Entscheidungen kirchlicher Autoritäten durch staatliche Behörden würde letztlich dazu führen, dass dem Papst und der Kurie die Leitung der Kirche entzogen wird: Stattdessen würden nunmehr Richter und Verwaltungsbeamte (die vielleicht nicht einmal selbst katholisch sind) darüber befinden, welche Ansichten katholisch sind und welche nicht, beziehungsweise welche dogmatischen Abweichungen so schwerwiegend sind, dass sie ihren Träger für eine Lehrtätigkeit an einer katholischen Universität disqualifizieren. Ist erst einmal dies akzeptiert, dann könnte in gleicher Weise auch die Ernennung und Versetzung von Bischöfen und Pfarrern überprüft werden: Man stelle sich beispielsweise einen Pfarrer vor, der vor einem staatlichen Gericht die Zulässigkeit seiner Absetzung durch den Bischof in Zweifel zieht: Er wolle sich zwar nicht mehr an sein Zölibatsversprechen halten und glaube weder an Gott noch an ein Leben nach dem Tod, doch sei er trotzdem ein erfolgreicher Seelsorger, dessen Predigten in seiner Pfarrei immer auf viel Zustimmung gestoßen seien.

Mit anderen Worten: Das Straßburger Urteil in der Rechtssache Lombardi Vallauri führt zwar zweifellos zu dem vom Gerichtshof angestrebten verstärkten Schutz der individuellen Interessen des Beschwerdeführers im Anlassfall, dies aber um den Preis, ein zentrales Menschenrecht, nämlich die durch Artikel 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention ebenfalls geschützte Religionsfreiheit, radikal in Frage zu stellen. Es ist erstaunlich, dass der Gerichtshof zwar – wenn auch nur beiläufig – auf die Frage eingegangen ist, ob die Religionsfreiheit des Beschwerdeführers verletzt wurde, zugleich aber die Frage nach den weiteren Implikationen seines Urteils für die Religionsfreiheit Dritter gänzlich außer Acht gelassen hat.

„Der Versuch des Straßburger Gerichts, das Lehramt der katholischen Kirchen seiner eigenen Jurisdiktion zu unterstellen, weist den Weg in eine neue Form des Totalitarismus"

Diese Religionsfreiheit ist nämlich kein bloßes Individualrecht, denn die Sozialnatur des Menschen wie auch der Religion selbst verlangt religiöse Gemeinschaften. Für diese Gemeinschaften schließt die Religionsfreiheit das Recht ein, ihre eigenen Amtsträger auszuwählen, zu erziehen, zu ernennen und zu versetzen und aus ihrem eigenen religiösen Sinn Einrichtungen für Erziehung, Kultur, Caritas und soziales Leben zu schaffen. Dieses Recht wird nicht bloß verletzt, sondern seiner Substanz völlig beraubt, wenn, wie es in der Straßburger Entscheidung impliziert scheint, die Letztentscheidung darüber, wer ein kirchliches Amt ausüben beziehungsweise wer an einer Universität in kirchlicher Trägerschaft unterrichten darf, der kirchlichen Autorität entzogen und auf staatliche Funktionsträger übertragen wird.

Es geht hier nicht nur um die Religionsfreiheit von 250 Millionen Katholiken in Europa, die ein Recht darauf haben, dass ein katholisches Bildungswesen aufrechterhalten werden kann, in dem integre Persönlichkeiten das lehren, was sie tatsächlich auch selbst glauben und praktizieren. Es geht aber auch nicht nur um die Interessen der katholischen Kirche, sondern generell um einen wichtigen Aspekt der persönlichen Freiheit: nämlich um die Möglichkeit, dass Bürger sich ohne staatliche Bevormundung oder Einmischung zu Weltanschauungs- und Interessensgemeinschaften zusammenschließen. Diese Freiheit wird nicht nur von Kirchen und Religionsgemeinschaften in Anspruch genommen, sondern sie ist die Voraussetzung dafür, dass es politische Parteien, Gewerkschaften, Interessen- und Lobbyverbände, unabhängige Medien und Nichtregierungsorganisationen geben kann. Die oben zitierte Konkordatsbestimmung schränkt bürgerliche Freiheiten also nicht ein, sondern garantiert sie, weil die Existenz von Tendenzorganisationen in einer Demokratie nicht eine möglichst weitgehend einzuschränkende Ausnahmesituation, sondern geradezu eine Grundvoraussetzung für die Freiheit des Einzelnen in einem demokratischen Gemeinwesen ist. Ein weltanschauliches Neutralitätsgebot mag es für den Staat und die von ihm getragenen Bildungseinrichtungen geben, nicht aber für die Zivilgesellschaft. Insofern weist der Versuch des Straßburger Gerichts, das Lehramt der katholischen Kirchen seiner eigenen Jurisdiktion zu unterstellen, den Weg in eine neue Form des Totalitarismus