13.12.2010

Niederlande: Liberaler empfiehlt orthodoxen Juden die Auswanderung

In den Niederlanden wächst der Hass auf Juden und andere Minderheiten. Ein prominenter Politiker rät zur Auswanderung.

Früher wurde ich nie beschimpft“, sagt Binyomin Jacobs. ,,Aber heute fast immer.“ Vor Kurzem wurde die Synagoge in Amersfoort, wo der Oberrabbiner der Niederlande wohnt, mit roter Farbe beschmiert. Der Zaun seines Hauses wurde eingetreten. Und eines Abends hörte der 61-Jährige zu Hause plötzlich einen Knall. Es hatte ein Fenster getroffen.

Jacobs lief sofort ins Freie und wurde selbst mit Steinen beworfen. Zwei Jugendliche auf einem Mofa machten sich aus dem Staub. ,,Kurz danach wurden die Scheiben ganz eingeschmissen“, erzählt Jacobs, der einen schwarzen Hut und einen langen Bart trägt, die traditionelle Kluft orthodoxer Juden. Nun wird sein Haus von Polizeikameras beobachtet. Abends, so riet man ihm, solle er nicht mehr die Bahn nehmen.

Es gibt zahlreiche Anzeichen dafür, dass der Judenhass in Holland zunimmt. Nach Angaben des israelischen Informationszentrums Cidi in Den Haag hat sich die Zahl antisemitischer Delikte im vergangenen Jahr um 55 Prozent auf 167 erhöht. Eine hohe Dunkelziffer wird vermutet. Beim neuen Antisemitismus vermischen sich muslimische und alte europäische Elemente und erreichen gemeinsam den Mainstream.

Die Fans des Fußballklubs Feyenoord aus dem von besonders vielen Muslimen bewohnten Rotterdam etwa singen im Stadion: ,,Hamas! Hamas! Alle Juden rein ins Gas!“ Gemeint sind die Anhänger von Ajax Amsterdam, die als Provokation die israelische Fahne mit zum Spiel nehmen. In der kosmopolitischen Hauptstadt war bis vor Kurzem ein Jude Bürgermeister.

Die Ajax-Fans werden auch mal mit einem perfiden Zischen begrüßt. Es soll das Geräusch der Gaskammer darstellen. Doch Jacobs versucht es gelassen zu nehmen: ,,Der Antisemitismus hat auch positive Folgen: Viele Bürger und Politiker bieten ihre Hilfe an. Sie bringen Blumen. Oder halten Wache.“

Lody van de Kamp hat genug vom Judenhass. Der jüdische Politiker der Christdemokraten, dessen Vater Auschwitz überlebte, ging mit einer versteckten Kamera in die Amsterdamer Immigrantenviertel. Dort begrüßten viele marokkanische Einwanderer ihn spontan mit dem Hitlergruß.

Um den grassierenden Antisemitismus in der Hauptstadt zu bekämpfen, schlugen Politiker vor, sogenannte Lockjuden in muslimisch geprägten Vierteln einzusetzen – Polizeibeamte, die in orthodoxer Tracht und Schläfenlocken verkleidet Antisemiten auf der Straße aus der Reserve holen.

All diese Entwicklungen haben Frits Bolkestein nun dazu gebracht, einen kontroversen Aufruf zu verfassen. Der ehemalige EU-Kommissar und Kopf der liberalen VVD ruft orthodoxe Juden auf, die Niederlande Richtung Israel oder Amerika zu verlassen. ,,Für sie gibt es keine Zukunft mehr“, so Bolkestein, der stets als Intellektueller galt. Nun hat er eine empörte Debatte entfacht.

Fast alle Parteien widersprachen ihm, sogar sein Ziehsohn Geert Wilders, islamkritischer Anführer der Freiheitspartei PVV. Nicht die Juden, sondern die antisemitischen Marokkaner müssten emigrieren, so Wilders. Doch Bolkestein legt nach. ,,Wir schauen weg so, wie wir das früher auch gemacht haben“, mahnte er vor einigen Tagen in einer Talkshow.

Von den 140.000 niederländischen Juden, die 1940 in Holland lebten, wurden nach der Besetzung durch Hitler-Deutschland etwa Hunderttausend in Konzentrationslager deportiert und ermordet. Nirgendwo im Westen Europas wurden prozentual so viele Juden Opfer der Nazis.

Aber kaum ein Niederländer beschäftigt sich ernsthaft mit der unangenehmen Frage, warum gerade im kleinen Königreich an der Nordsee so viele Juden ermordet wurden. Bis heute ist die Holocaustleugnung im Land Anne Franks keine Straftat. Der liberale Premier Mark Rutte, seit Kurzem im Amt, möchte das auch nicht. Wegen der Meinungsfreiheit.

Doch Lehrer berichten, es werde immer schwerer, den Holocaust im Unterricht zu thematisieren. In den Großstädten gaben bei einer Umfrage 20 Prozent der Lehrkräfte an, muslimische Schüler in ihren Klassen wollten das nicht zulassen. Einige wurden deshalb auch bedroht.

Es scheint, als ob die Toleranz im einst so liberalen Holland von allen Seiten bedroht ist. Als Ursprung nennen viele Beobachter die Polarisierung der Gesellschaft nach den politischen Morden an dem islamkritischen Politiker Pim Fortuyn und dem Filmemacher Theo van Gogh. Rechtspopulistische Parteien wie Wilders’ PVV erlebten im vergangenen Jahrzehnt einen rasanten Aufstieg.

Seitdem hat die lockere Multikulti-Gesellschaft, die in den 90ern noch im Wohlstand schwelgte, ihre Unschuld verloren. Parallelgesellschaften werden nicht mehr akzeptiert. Verschiedene Regierungen haben seither versucht, liberale Exzesse, wie den Drogenverkauf in Coffeeshops und die offene Prostitution in Rotlichtvierteln, zu begrenzen. Die kriminellen Begleiterscheinungen hatten überhandgenommen.

Die holländische Toleranz, so zeigt sich nun, war oftmals nur ein Wegschauen. Mittlerweile weht hinter den Deichen ein anderer Wind. Dazu gehört eine restriktive Einwanderungspolitik. Von den Immigranten wird erwartet, dass sie sich anpassen.

Das Klima hat sich allgemein verschärft. Das spüren verschiedene Minderheiten

www.welt.de