18.12.2010

Isalm: Menschenrechte und Religion

FR-Serie: Mit oder ohne Gott von Stefan Weyers

Isalm: Menschenrechte und Religion

FR-Serie: Mit oder ohne Gott von Stefan Weyers

Menschenrechte werden aus der Sicht muslimischer und christlicher Jugendlicher deutlich unterschiedlich wahrgenommen. Die Akzeptanz der Menschenrechte sinkt im Konflikt mit religiösen Normen.

Die Scharia, das auf Koran und Sunna beruhende islamische Recht, gilt Kritikern als unvereinbar mit den Menschenrechten. Auch im islamischen Diskurs wird die Scharia häufig den „säkularen“ oder „westlichen“ Menschenrechten gegenübergestellt. So bindet die „Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam“ (1990), eine Erklärung von 45 islamischen Staaten, die Geltung der Menschenrechte an die Scharia und schränkt die Gleichberechtigung, die Religionsfreiheit und andere Rechte ein. Diese Auslegung widerspricht der Idee universaler Menschenrechte. Die These der Nicht-Vereinbarkeit von Islam und Menschenrechten verkennt jedoch, wie Abdullahi An-Na’im betont, dass unter Muslimen ganz verschiedene Deutungen existieren (FR v. 29.10.). Im Islam wie im Christentum gibt es eine große Vielfalt religiöser Auslegungen, und in beiden Religionen gibt es Kontroversen um die Menschenrechte, die mit dem Wahrheitsanspruch religiöser Normen zusammenhängen.

Recht und Moral gründen sich in der Moderne nicht mehr auf den Willen Gottes, sondern auf die menschliche Autonomie. Säkulare Rechtsordnungen sind der religiösen Neutralität verpflichtet und beanspruchen den Geltungsvorrang des staatlichen Rechts, dagegen wird in orthodoxen Lesarten von Judentum, Christentum und Islam die religiös-rechtliche Ordnung dem menschlichen Recht grundsätzlich übergeordnet. Im „Abendland“ hat dies zu starken Konflikten geführt, und die Menschenrechte wurden von den christlichen Kirchen lange Zeit bekämpft. Zwar werden sie im Christentum heute weitgehend akzeptiert, für strenggläubige Strömungen und einige Rechte, wie das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung, gilt dies jedoch nur eingeschränkt.

Menschenrechte 

Auch die Scharia muss interpretiert werden

Im Islam wird der Koran als unmittelbares Wort Gottes verstanden, die Scharia gilt daher als ewiges göttliches Recht. Gegenstand des islamischen Diskurses ist daher nicht die Frage, ob die Scharia gültig ist, strittig ist, was zur göttlichen Rechtssetzung (shari’a) und was zur menschlichen Rechtsfindung (fiqh) gehört. Aber auch die Scharia muss interpretiert werden. Der Islamforscher Olivier Roy sagt: „Die Schlüsselfrage lautet nicht, was der Koran sagt, sondern was der Koran nach Auffassung der Muslime sagt“. Es geht also nicht um das „wahre Wesen“ des Islam, sondern um die Deutungen der Muslime. Markus Tiedemann hat Recht, dass die Begründung der Menschenrechte einer prinzipiellen Ethik bedarf, einer „moralischen Sprache“, wie Rainer Forst es nennt (FR v. 3. und 25.11.). Nicht für die Begründung, aber für die subjektive Anerkennung der Menschenrechte ist jedoch entscheidend, hier stimme ich An-Na’im zu, ob Gläubige sie als vereinbar mit ihrer Religion ansehen.

Die Sicht von Gläubigen auf Menschenrechte möchte ich anhand der Ergebnisse einer Untersuchung diskutieren. Befragt wurden 44 muslimische und 45 christliche Personen zwischen 13 und 23 Jahren. Sie sind in Deutschland aufgewachsen und in türkisch-sunnitischen oder in katholischen Gemeinden im Rhein-Main-Gebiet engagiert. In Interviews haben wir sie nach ihrer Beurteilung verschiedener Menschenrechte und Normenkonflikte gefragt. Die Studie ist nicht repräsentativ, viele Muslime in Deutschland sind weniger strenggläubig als die befragten Muslime, und sicherlich gibt es auch strenggläubige Christen. Es geht nicht um generelle Aussagen über den Islam und das Christentum, sondern um Muster normativen Denkens in zwei wichtigen religiösen Milieus.

Im Konflikt mit religiösen Normen

Die Relevanz von acht „klassischen“ Menschenrechten wurde auf einer Skala von 1 (unwichtig) bis 10 (sehr wichtig) bewertet. Die höchste Zustimmung findet das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Mittelwert 9,7), dann folgen: Gleichheit vor dem Gesetz (9,57), faires Gerichtsverfahren (9,31), Religionsfreiheit (9,18), Gleichberechtigung (9,17), Meinungsfreiheit (8,74), politische Mitbestimmung (8,49) und das Recht auf freie Entfaltung der Person (8,14). Alle Rechte genießen hohe Wertschätzung, von den muslimischen Jugendlichen werden sie noch etwas positiver beurteilt als von den christlichen. Die große Mehrheit (91 Prozent) spricht sich auch für die universelle Geltung dieser Rechte aus.

Die Akzeptanz der Menschenrechte sinkt jedoch, wenn diese mit anderen Normen kollidieren. Alle Befragten halten das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit für sehr wichtig, dennoch stimmen viele von ihnen schweren Menschenrechtsverletzungen zu: 30 Prozent befürworten die Todesstrafe für schwere Verbrechen wie Mord; 31 Prozent bejahen die Zufügung starker Schmerzen durch die Polizei, um einen Entführer zur Aussage zu zwingen und eventuell Leben zu retten, die Androhung von Schmerzen befürworten hier sogar 72 Prozent. Ähnliche Einschränkungen zeigen sich in Zusammenhang mit religiösen Normen. So wird das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung von der Hälfte der Muslime abgelehnt: 53 Prozent plädieren mit Verweis auf „religiöse Gebote“ oder die „menschliche Natur“ für ein Verbot homosexueller Handlungen.

Muslime argumentieren nicht sekulär

Bei allen Muslimen ist die Religion ein wichtiger Bezugspunkt des Denkens über Menschenrechte, dies gilt aber nur für ein Drittel der katholischen Jugendlichen, die anderen urteilen strikt säkular. Obwohl fast alle Muslime den Koran als direktes Wort Gottes verstehen, legen sie religiöse Normen sehr verschieden aus: Ein Viertel stimmt vielen Menschenrechten im Allgemeinen zu, ordnet sie der Scharia jedoch strikt oder weitgehend unter, so dass diese Rechte im Kern preisgegeben werden. Ein anderes Viertel interpretiert religiöse Gebote so, dass sie mit den Menschenrechten vereinbar sind und diese sogar religiös fundieren. Knapp die Hälfte der Muslime stimmt den Menschenrechten grundsätzlich zu, relativiert diese aber, wenn sie mit religiösen Geboten kollidieren. Moralische und religiöse Urteile stehen hier im Konflikt. Ich erläutere diese Urteilsmuster anhand kurzer Beispiele.

1. Für den 20-jährigen M. sind „Gottes Regeln“ alleiniger Bezugspunkt des Urteils. Entscheidend ist, ob etwas „verboten“ oder „erlaubt“ ist. Dabei werden religiöse Normen strikt wörtlich verstanden und verabsolutiert, daher gilt jeder Regelverstoß als Missachtung Gottes: „Das heißt, dass man Gott nicht beachtet“. Dieses fundamentalistische Muster wendet er auf alle religiös normierten Fragen an, sogar auf grausame Strafen wie das Abtrennen der Hand. Die Menschenrechte begrenzt er auf „die Rechte, die unser Glaube uns lässt“. Ebenfalls stark religiös, aber nicht fundamentalistisch urteilen Personen des orthodoxen Musters.

2. Ganz anders die 16-jährige L.: Sie hält Homosexualität zwar für falsch, aber für Privatsache. Auch Religiosität deutet sie als „etwas Persönliches“. Der Islam sei „die richtige Religion“, das Recht auf Religionswechsel bejaht sie aber uneingeschränkt. Sie befürwortet die Gleichberechtigung und kontextualisiert Koranverse zur Unterordnung der Frau historisch: als „früher“ sinnvolle, „heute aber nicht mehr“ gültige Regeln. Die Unterordnung lehnt sie sogar mit Verweis auf den Koran ab. Religiöse Normen sind wichtige persönliche Maßstäbe, aber keine verallgemeinerbaren Gebote.

3. Auch die 14-jährige Y. hält Gleichberechtigung für wichtig, ihre moralischen und religiösen Urteile widersprechen sich hier jedoch: Zur Regel, wonach die Aussage eines Mannes vor Gericht doppelt so viel zählen kann wie die einer Frau, sagt sie empört: „Das ist keine Gleichberechtigung, das find ich nicht gerecht … aber trotzdem muss ich dem folgen“. Dieses Muster ist paradox: Das Gebot gilt als ungerecht, wird aber nicht in Frage gestellt: „Ich würd es immer befolgen, egal, wie ich das finde, wenn’s im Koran vorgeschrieben ist.“ Das moralische Urteil wird aber nicht aufgegeben, daher bleibt die Beziehung von Religion und Moral konflikthaft.

Es zeigt sich eine gewisse Ambivalenz gegenüber den Menschenrechten: Ihre allgemeine Akzeptanz ist hoch, in Konfliktfällen werden sie jedoch häufig relativiert. Religiöse Normen dienen dabei sowohl der Begründung als auch der Relativierung der Rechte. Die meisten Christen urteilen säkular – auf Kosten religiöser Traditionen. Menschenrechte und Religion „harmonieren“ bei den Christen und Muslimen, die religiöse Geltungsansprüche privatisieren. Fundamentalisten (und weniger strikt Orthodoxe) unterwerfen die Menschenrechte dagegen dem göttlichen Gesetz. Und viele Muslime bejahen die Rechte, können sie aber mit ihrem Glauben nicht immer vereinbaren.

Junge Männer sind anfällig

Moderne Gesellschaften sind durch Säkularisierungs- und Pluralisierungsprozesse gekennzeichnet. Nach Peter L. Berger müssen sich Gläubige zu dieser Situation verhalten. Die Optionen reichen vom Säkularismus bis zum Fundamentalismus, dabei scheinen vor allem junge Männer anfällig für radikale Orientierungen. In ihrer Suche nach dem „wahren“ Islam – die oft im Zusammenhang mit prekären Lebensverhältnissen und Erfahrungen von Fremdheit und Diskriminierung steht – wird der Islam zur „absoluten“ Basis der Identitätsbildung. Allerdings ist der Fundamentalismus unter jungen Muslimen wohl eher ein Randphänomen. Häufig sind jedoch ein enges Schriftverständnis und eine „Kritik- und Denkblockade gegenüber dem Koran“ (Gudrun Krämer). Dieses Denken erschwert es, religiöse und säkulare Normen und Lebensformen zu vereinbaren. Erst in Ansätzen zeigt sich bei hochreligiösen jungen Muslimen eine Neuinterpretation der Scharia, wie sie An-Na’im fordert.

Die Ergebnisse zeigen, dass für das Verhältnis zu den Menschenrechten nicht die Religion, sondern die Interpretation religiöser Quellen entscheidend ist. Von zentraler Bedeutung ist daher, welche Art der Auseinandersetzung mit diesen Quellen gelehrt und gelernt wird. Die Chance eines islamischen Religionsunterrichts liegt darin, die kritische Reflexion und Aneignung religiöser Traditionen zu fördern, ohne moderne Ideen von Freiheit und Gleichheit in Frage zu stellen. Anknüpfen ließe sich dabei an reformorientierte Ansätze, die innerhalb des Islam vertreten werden.  /www.fr-online.de