07.01.2011
Ägypten: Terror gegen Christen: "Wir sind schuld"
Muslimische Intellektuelle und Alltagsrassisten sind mitverantwortlich für den Hass auf die christlichen Kopten. Amr Abdallah Dalsh/Reuters
Ägypten: Terror gegen Christen: "Wir sind schuld"
Muslimische Intellektuelle und Alltagsrassisten sind mitverantwortlich für den Hass auf die christlichen Kopten.
Amr Abdallah Dalsh/Reuters
Wir Ägypter werden uns zusammenfinden zu einem gemeinsamen Ausruf der Verachtung. Vereint als Muslime und Christen, als Regierung und Opposition, Kirche und Moschee, als Kleriker und Laien, werden wir uns alle erheben und einstimmig al-Qaida, militante Islamisten und muslimische Fanatiker aller Art anklagen. Einige von uns werden sogar noch einen Schritt weiter gehen und die Salafiten und die der ägyptischen Kultur fremden Wahhabiten (eine besonders restriktive Strömung des Islams, Anm. d. Red.) anprangern.
Ein großer Teil der öffentlichen Empörung wird allerdings bloße Scheinheiligkeit sein, gerade so nuanciert, dass engstirnige Vorurteile, die abscheuliche Doppelmoral und die Bigotterie, die so viele der Ankläger fest im Griff halten, unterhalb der Oberfläche bleiben werden.
Hani Shukrallah
ist Muslim und lebt in Kairo. Er ist Politologe und war Chefredakteur der staatsnahen »Al-Ahram Weekly«, die zu den bedeutendsten englischsprachigen Zeitungen in der arabischen Welt gehört. Seit November 2010 leitet Shukrallah die ebenfalls englischsprachige Internetseite »Ahram Online«
All das wird vergebens sein. Wir waren schon einmal an diesem Punkt angekommen; wir haben schon einmal genau das getan, was wir jetzt wieder tun werden. Und dennoch gibt es weitere Massaker, jedes schrecklicher als das zuvor, während Bigotterie und Intoleranz immer tiefer in jede Ecke und jede Ritze unserer Gesellschaft eindringen. Es ist nicht leicht, die Christen aus Ägypten zu vertreiben. Sie sind hier, seit es das Christentum gibt. Fast eineinhalb Jahrtausende muslimischer Herrschaft haben die christliche Gemeinde nicht auslöschen können. Im Gegenteil, der Überlebenskampf hat sie stark und dynamisch gemacht, fast so, als ob ihr eine entscheidende Rolle bei der Ausbildung einer nationalen, politischen und kulturellen Identität des modernen Ägyptens zuteil wurde.
Jetzt jedoch, zwei Jahrhunderte nach der Geburt des modernen Ägyptens und zu Beginn des zweiten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts, scheint das, was bisher undenkbar war, nicht mehr jenseits unserer Vorstellungskraft zu liegen: ein Ägypten ohne Christen. Ich hoffe, dass ich, falls das eintrifft, schon lange diese Erde verlassen haben werde. Doch ob tot oder lebendig, dieses Ägypten wird ein Ägypten sein, das ich nicht wiedererkenne und dem ich nicht angehören will.
Mein Protest richtet sich nicht gegen die blutdürstigen Kriminellen von al-Qaida oder gegen die Verbrecher irgendeiner anderen Gruppe, die an den jüngsten Gräueltaten in Alexandria beteiligt war.
Ich klage eine Regierung an, die zu glauben scheint, dass sie die Islamisten mit deren Mitteln zu überflügeln vermag.
Ihr klagt die Doppelmoral an – und seht eure eigene Doppelmoral nicht
Ich klage die Minister und Regierungsbeamten an, die nichts Besseres zu tun haben, als ihren persönlichen Fanatismus ins Parlament zu tragen – unkontrolliert, brutal und zur gleichen Zeit hoffnungslos unqualifiziert, Autorität auszuüben.
Ich klage die Staatsorgane an, die glauben, dass sie, indem sie die Salafiten unterstützen, die Muslim-Bruderschaft untergraben. Sie mögen es gelegentlich ganz gern, zur bigotten antikoptischen Stimmung beizutragen. Das ist wahrscheinlich eine ausgezeichnete Methode, um von anderen, ernsthafteren Regierungsangelegenheiten abzulenken.
Am allermeisten jedoch klage ich die Millionen angeblich moderaten Muslime unter uns an, die mit jedem Jahr voreingenommener und engstirniger geworden sind.
Ich klage jene unter uns an, die sich lautstark über die Entscheidung empört haben, dass der Bau eines muslimischen Zentrums in der Nähe des Ground Zero in New York gestoppt werden sollte, und auf der anderen Seite applaudieren, wenn die ägyptische Polizei den Bau eines Treppenhauses in einer koptischen Kirche im Kairoer Omranya-Bezirk zum Stillstand bringt.
Ich bin herumgekommen, und ich habe euch reden gehört, ihr Mitbürger, in euren Büros, in euren Klubs und bei euren Dinnerpartys: »Den Kopten muss eine Lektion erteilt werden«, »die Kopten werden immer arroganter«, »die Kopten missionieren Muslime heimlich«, und im selben Atemzug, »die Kopten hindern Christinnen daran, dem Islam beizutreten, sie kidnappen sie und schließen sie hinter Klostermauern weg«.
Ich klage euch alle an, denn in eurem blinden religiösen Eifer könnt ihr nicht einmal sehen, wie viel Gewalt ihr dem gesunden Menschenverstand antut. Ihr wagt es, die ganze Welt der Doppelmoral zu beschuldigen, und gleichzeitig seid ihr völlig unfähig, eure eigene eklatante Doppelmoral zu erkennen.
Merkel fordert Solidarität mit verfolgten Christen-Minderheiten
Und schließlich klage ich die liberalen Intellektuellen in Ägypten an, Muslime und Christen, die abseits gestanden haben und es für ausreichend hielten, sich einer nutzlosen Welle der Empörung nach der anderen anzuschließen, sogar als die Massaker weitergingen und grausamer wurden. Ich klage sie an, ganz gleich, ob sie mitschuldig, besorgt oder einfach nicht willens sind, etwas zu tun oder zu sagen, das »die Massen« verstimmen könnte.
Gibt es nur eine Wahl: Sterbende Kopten – oder Hilfe von außen holen?
Vor einigen Jahren schrieb ich einen Artikel in der arabischen Tageszeitung Al-Hayat und kommentierte darin den Kolumnisten einer anderen ägyptischen Zeitung. Der Kollege, dessen Namen ich bereits vergessen habe, lobte den Patriotismus eines ägyptischen Kopten, der wiederum geschrieben hatte, dass er lieber durch die Hand eines muslimischen Bruders getötet werden wollte, als die Amerikaner um Hilfe zu bitten.
Ich richtete meine Worte an den patriotischen Kopten und fragte ihn einfach: Wo hört diese Bereitschaft auf, sich für die Nation aufzuopfern? Es möge ein ehrenhaftes, sogar lobenswertes Bestreben sein, aber sei er auch bereit, das Leben seiner Kinder, seiner Frau, seiner Mutter aufs Spiel zu setzen? Wie viele ägyptische Christen, fragte ich ihn, bist du bereit zu opfern, bevor du um Hilfe von außen bittest: eine, zwei, drei Millionen, die ganze Gemeinschaft?
Unsere Möglichkeiten, so schrieb ich damals und bleibe auch heute dabei, sind nicht ausgeschöpft. Unsere einzige Wahl besteht doch nicht darin, zuzusehen, wie ägyptische Kopten getötet werden, oder zu Onkel Sam zu laufen. Ist es wirklich so schwierig, uns selbst als rationale Menschen zu betrachten, die über ein gewisses Maß an Rückgrat verfügen? Die ihr eigenes Schicksal und das Schicksal ihrer Nation in die Hand nehmen? Das ist, in der Tat, die einzige Möglichkeit, die uns zur Verfügung steht, und wir sollten sie dringend ergreifen, bevor es zu spät ist.
Aus dem Englischen von Anna Mertens, Quelle Zeit.online