07.01.2011
Ägypten/Deutschland:"Wir müssen beides ablehnen"
"Wir müssen beides ablehnen, Säkularismus und Fundamentalismus" Interview mit Pater Samir Khalil Samir zu den Anschlägen in Ägypten
Ägypten/Deutschland:"Wir müssen beides ablehnen"
"Wir müssen beides ablehnen, Säkularismus und Fundamentalismus"
Interview mit Pater Samir Khalil Samir zu den Anschlägen in Ägypten
ROM, 7. Januar 2011 (ZENIT.org).- Weltweit sind Sicherheitskräfte am Donnerstagabend anlässlich der Christmette zum koptisch-orthodoxen Weihnachtsfest in höchster Alarmbereitschaft gewesen. Nachdem beim Mitternachtsgottesdienst am 31. Dezember bei einem Attentat auf eine Kirche der koptischen Christen im ägyptischen Alexandria 23 Menschen getötet und 79 weitere verletzt wurden, war die Angst groß. Die Weihnachtsfeierlichkeiten verliefen aber ohne Zwischenfälle. Michaela Koller befragte den ägyptischen Jesuiten und Islamwissenschaftler Pater Samir Khalil Samir vom Päpstlichen Orientinstitut in Rom nach den Motiven, Erklärungsversuchen und tieferen Gründen des Anschlags in der Silvesternacht.
ZENIT: Beim Angriff auf die Kirche der Heiligen in Alexandria in der Silvesternacht, in dessen Folge inzwischen das 22. Todesopfer zu beklagen ist, wurde die angebliche Entführung zweier Ägypterinnen, die zum Islam konvertiert sein sollen, als Tatmotiv angegeben. Was wissen Sie darüber?
--Pater Samir: Diese Geschichte zieht sich nun seit vier Jahren hin. Sie behaupten, dass die beiden Frauen, Wafa Constantine und Camelia Shehata, die beide mit koptischen Priestern verheiratet sind, Eheprobleme hatten und sie dann zum Islam konvertiert sind, entführt wurden und von den Kopten versteckt werden. Es ist wahr, dass die Frauen Eheprobleme hatten, aber es ist nicht wahr, dass sie konvertiert sind. In der Tat bestätigte der verstorbene Scheich und Großmufti von Al-Azhar, Tantawi, dass es keine Beweise für deren Konversion gab. Aus Furcht vor ihrer möglichen Entführung durch islamistische Bewegungen wurden die Frauen von der koptischen Kirche in Klöstern untergebracht. Jetzt taucht die Geschichte wieder auf. Auch nach dem Angriff auf die syrisch-katholische Kirche in Bagdad am 31. Oktober letzten Jahres zitierte die Gruppe, die für den Terroranschlag verantwortlich war, den Fall der beiden Frauen, um Angriffe auf Christen in Ägypten zu rechtfertigen.
ZENIT: Wird denn das als Ausrede in der muslimischen Welt durchschaut?
--Pater Samir: Vor einigen Tagen nahm ich an einem Online-Forum der islamischen Zeitung Al-Mesreyya teil, wo der Angriff auf die Kirche diskutiert wurde. Anstatt ihre Anteilnahme für die christlichen Opfer und ihr Entsetzen über den Angriff zum Ausdruck zu bringen, hieß es andauernd in den mindestens 60 Kommentaren, dass die Kopten Fehler gemacht hätten und sie zitierten die Geschichte der beiden Frauen. Auch hieß es darin, die Christen steckten selbst dahinter, um Ägypten in ein schlechtes Licht zu rücken oder auch, es sei von den USA oder vom Mossad organisiert worden. Ich schrieb einen kurzen Kommentar, der nicht einmal veröffentlicht wurde. In den wenigen Zeilen, die ich schrieb, fragte ich, welches Recht zulässt, eine Konversion zu erzwingen. Konversionen würden teilweise in Ägypten erstickt, das heißt, der Übertritt zum Islam werde erleichtert, während der Religionswechsel für Muslime sehr erschwert werde.
ZENIT: Der Angriff lässt viele Menschen in der ganzen Welt sprachlos werden, während andere, wie Sie es schildern, sogar mit Verschwörungstheorien hervortreten. Verlässt Sie da selbst nicht der Mut, wenn Sie von vielen Medien um einen Kommentar gebeten werden?
--Pater Samir: Man kommt nicht umhin, die Details zu analysieren, um mit der Zeit schließlich mit viel Geduld zu einer genaueren und besseren Interpretation der Realität zu gelangen. Ich rate jedem, der in der Verantwortung steht, ob Politiker oder Journalist, hieran mitzuwirken, ein differenziertes Bild davon zu bekommen. Leider tun dies nur wenige Menschen. Beschreibung der Grausamkeiten und Meinungsäußerungen ersetzen keine Analyse. Diese sind wir aber den Opfern schuldig.
ZENIT: Gab es denn eine differenzierte Betrachtung auch auf muslimischer Seite?
--Pater Samir: Ich habe gerade heute zwei Erklärungen von muslimischen Vertretern in arabischer Sprache erhalten, die die Ereignisse, wenn schon nicht analysieren, doch sehr scharf verurteilen. Sie bezeichnen den Anschlag als Schande und zählen auch ehrlich Bereiche auf, in denen Kopten diskriminiert werden. Diese Form der Selbstkritik ist unter Muslimen selten, von denen viele in einer vorkritischen Situation leben. Sie setzen sich nicht kritisch mit den Argumenten auseinander und suchen nicht nach Beweisen für ihre Behauptungen.
ZENIT: Woran liegt das?
--Pater Samir: Es liegt an der Ausbildung. Sogar in der Universität, in Fächern wie Medizin, Mathematik, Geschichte, Literatur und Philosophie ist es so, dass die Studenten nur auswendig lernen - aus den Büchern der Professoren. Sie können nur rezitieren, aber nicht selbständig Fragen zu Themen aus dem Buch beantworten. Schon kleine Kinder lernen den Koran auswendig, ohne ihn zu verstehen. Mir ist das sehr oft in Ägypten begegnet. Die Bildung ist so wichtig, um einen Wandel herbeizuführen. Junge Leute müssen lernen, selbständig zu denken. Inzwischen zeichnet sich eine Wende ab. Die Mehrheit der gelehrten Ägypter versuchen das System zu erneuern, sei es das gesamte Bildungssystem, als auch das religiöse System. Sie spüren, dass neuen Herausforderungen durch sozialen Wandel mit neuen Methoden begegnet werden muss.
ZENIT: Andererseits gewinnt man den Eindruck, dass auch im Westen einigen Politikern solche Anschläge sehr gelegen kommen...
--Pater Samir: Einige europäische Länder beginnen nun zu sagen, dass es genug ist. Es ist die wachsende Erkenntnis, dass etwas getan werden muss. Es ist möglich, dass europäische Regierungen die Gewalt gegen Christen dazu benutzen, um islamische Zuwanderung zu blockieren. Es ist auch wahr, dass andere Angriffe auf die Religionsfreiheit der Christen in China oder Vietnam und Laos nur sporadisch verurteilt werden. Tatsache aber ist, dass der Nahe Osten eng mit Europa verbunden ist, und das Problem der Koexistenz mit dem Islam ein europäisches Problem ist. Ich bin insgesamt über die einstimmige Reaktion der internationalen Gemeinschaft auf den jüngsten Angriff erfreut.
Was in diesem Fall auffällt, ist die absolute Unschuld der Kopten: In anderen Teilen - Palästina, Irak, Libanon - gingen den Angriffen immerhin kriegerische Handlungen voraus. Davon kann in Ägypten nicht die Rede sein. Es ist ein heftiger, grundloser Angriff, der sich auf angebliche "Bekehrungen" stützt. Die Episode im ägyptischen Alexandria ist ein Akt, der sich gegen die Religionsfreiheit richtet. Aber Muslime, die im Namen der Scharia kämpfen, sind nicht in der Lage, den Wert der Menschenrechte zu verstehen. Die Menschenrechte müssen vor aller Tradition und allen Gesetze, auch der Scharia kommen.
ZENIT: Und wo gibt es im Westen Nachholbedarf, um an der Verständigung zu arbeiten?
--Pater Samir: Einer der wichtigsten Punkte dieses Dialogs ist es, die Kritik der Fundamentalisten an der westlichen Zivilisation, die sie als eine atheistische betrachten, ernst zu nehmen. Die Fundamentalisten pflegen reichlich Irrtümer in ihrer Kritik, aber stehen in der Wirklichkeit. Sie sehen, dass der Westen ein areligiöse Kultur fördert. In der Tat ist der Westen entweder neutral oder gleichgültig oder sogar gegen die Religion - während Fundamentalisten die islamische religiöse Kultur propagieren. Wir müssen den Mittelweg zwischen zwei Extremen finden: zwischen dem säkularen Westen, in dem es keinen Platz für Religion gibt oder denn islamisch-fundamentalistischen Weg, in der Religion gewaltsam alle Bereiche des Lebens durchdringt: Gebet, Arbeit, Sexualität, Familie und vieles mehr.
Im Angelus vom 1. Januar sagte der Papst: "Heute sind wir Zeugen zweier gegenläufiger Tendenzen, die beide negativ, beide extrem sind: Einerseits der Säkularismus, der sehr hinterlistig Religion marginalisiert, um sie auf den privaten Bereich zurück zu drängen und auf der anderen Seite der Fundamentalismus, der sie stattdessen mit Gewalt durchsetzen will. Ich glaube wirklich, der Papst hat recht. Wir müssen beides ablehnen, Säkularismus und Fundamentalismus.