25.01.2011
Irak: Sie werden euch hassen und morden
Nero im Zweistromland? Wer heute von "Christenverfolgung" spricht, ruft Bilder aus dem alten Rom auf. Die Klage über die Überfälle im Irak darf aber kein Alarm sein, der bald wieder verstummt. Dazu ist die Lage zu ernst. Von Martin Tamcke
Irak: Sie werden euch hassen und morden
Nero im Zweistromland? Wer heute von "Christenverfolgung" spricht, ruft Bilder aus dem alten Rom auf. Die
Klage über die Überfälle im Irak darf aber kein Alarm sein, der bald wieder verstummt. Dazu ist die Lage zu
ernst. Von Martin Tamcke
Nicht nur bei uns denkt man beim Stichwort "Christenverfolgung" an die Antike; Nero wirkt bis heute nach. Auch im Irak erinnern sich die Christen an Verfolgungen in antiker Zeit und gedenken der Märtyrer aus ihrer Region von damals. Sie tun das in ihren Liturgien. Im Irak erlitten die Christen immer wieder massive Verfolgungen. Der Orientalist Rudolf Strothmann vermerkte schon 1936 im Blick auf die Kirche, die wie keine andere historisch in dieser Region verankert ist: "Die Nestorianerkirche ist unter Blutopfern entstanden, stets
martyrienreich geblieben und endet im Blut." Das schrieb Strothmann angesichts der Massaker gegen die Angehörigen der Kirche des Ostens, wie die offizielle Selbstbezeichnung dieser Kirche lautet, deren Gläubige
im Westen als "Nestorianer" verketzert wurden (zurückgehend auf einen von der Reichskirche verurteilten Patriarchen von Konstantinopel). Er stellte der antiken Variante der Christenverfolgungen eine moderne an die Seite und meinte zum brutalen Vorgehen des jungen Irak gegen die Assyrer: "Es ist dies überhaupt des irakischen Militärs erste Leistung, die Erledigung der Assyrer. Sie beginnt mit dem Abschießen flüchtiger Assyrer; dann werden systematisch Assyrer zusammengetrieben und die Männer erschossen."
Und doch überlebten die Christen im Irak auch dieses "Massenmorden" (Strothmann). In ihren Hymnen sangen und singen die Christen von dem, was ihnen im Laufe der Jahrhunderte hier an Gewalt widerfuhr. Sie erinnern sich an die Märtyrer der Christenverfolgungen in sassanidischer Zeit ebenso wie an die Welle vernichtender Gewalt seitens der Bagdad erobernden Mongolen im Mittelalter: "Über welches Dorf soll ich weinen? / Und über welches Dorf soll ich nicht weinen? / Denn nur von einem Schlag höre ich, / Der Dörfer getroffen hat ohne Zahl. / Um welche Leute soll ich denn klagen? / Und um welche soll ich nicht klagen? / Um die Gemordeten, die nicht zu zählen sind, / Oder um die Entführten, die man nicht berechnen kann?"
Dieser Vers aus einem Hymnus des Giwargis Warda stammt aus dem dreizehnten Jahrhundert und berichtet zum Geschehen in der Zeit der mongolischen Invasion 1235/36. Er ist für die betroffenen Christen heute
noch akut. Sie, die heute so untröstlich und hilflos sind wie ihre Vorfahren einst, fühlen sich in ihrer Not vermutlich aufgenommen durch die kirchliche Tradition, die ihnen übermittelt, dass das auch schon vor Jahrhunderten so war: "Es kamen diese Schläge, / Die furchtbaren und schmerzlichen / Und harten und
heftigen, / Und zu stark war der Schmerz, den sie brachten, um geheilt zu werden."
Die Christen des Orients büßen für die Taten des Westens Womöglich stehen den Gläubigen in den Kirchen des Irak heute Bilder der Ermordeten in der Kirche "Maria Erlöserin" am 30. Oktober 2010 in Bagdad vor Augen oder Bilder der unzähligen anderen Attentate, der schon alltäglich gewordenen Entführungen, der Übergriffe auf Geschäfte, der ständigen Erpressungen. Die
Kopten in Ägypten memorieren das, was ihnen im Laufe der Jahrhunderte widerfuhr, ebenfalls in der Anrufung ihrer Märtyrer, und vermutlich stehen ihnen heute die Toten von Alexandria vor Augen.
Natürlich gab es auch immer wieder entspannte Zeiten, in denen es Religionsfreiheit gab. Die Ursachen der Verfolgungen sind stets komplexer Natur. Natürlich gab und gibt es immer Fanatiker, die gerne den vorderorientalischen Raum als islamische Welt verstehen möchten. Schon in frühester Zeit verbreitete sich, gestützt auf angebliche Aufforderungen höchster Autoritäten, etwa die Forderung, die Arabische Halbinsel müsse frei von Nichtmuslimen sein. Sie war es nie, heute eher noch weniger als je zuvor. Und natürlich gab es die Sündenbockfunktion: Was immer der Westen tat - es wurde im Orient den Christen oft zum Verhängnis. Die anderen Bräuche, Gewohnheiten und Moralvorstellungen der Christen waren eine permanente Anfrage an das moralische Selbstverständnis der Muslime und wurden als störend empfunden.
So richteten sich die Angriffe aufgebrachter Muslime nach der amerikanischen Eroberung des Irak gegen oft von Christen betriebene Alkoholläden oder Kinos. Natürlich ist der Bildungshunger der orientalischen Christen, die sich aus den restriktiven Bedingungen der Mehrheitsgesellschaft befreien wollen, Anstoß zu Befremdungen, weil er nicht nur größere Offenheit für vermeintlich "westliche Werte" (die von den Christen aber nur als menschliche Werte betrachtet werden) befördert, sondern überhaupt ein Motor der Modernisierung ist. Die überproportionale Präsenz der Christen bei den Besserverdienenden (die aber beileibe nicht alle Christen sind) ist eine Folge von deren Marginalisierung und gleichzeitig eine Provokation.
Über all das wird oft leichtfertig das Mäntelchen der Religion gehängt, wenn Theologen auf den vermeintlichen Polytheismus der Christen, auf die vermeintliche Fälschung der heiligen Schriften durch die Christen, auf die negativeren, teilweise aggressiven Aussagen zu den Christen im Koran hinweisen und gegen die "Ungläubigen" mobilisieren. Ein enges Verständnis des Wortes "Christenverfolgung" würde über die komplexen Ursachen jedenfalls hinweggehen. Dass Terroristen sich als Märtyrer verstehen für ihre Sache
oder ihren Glauben, das mag durchgehen als ein grelles Licht in einer akuten Gemengelage. Aber dass der Mord an Unschuldigen so zu verstehen wäre, das mutet säkularisierten Menschen fremd an.
Ist es überhaupt richtig, von Christenverfolgungen zu sprechen? Handelt es sich nicht doch um Anschläge,
die ausschließlich der Al Qaida oder anderen Extremisten zuzuordnen sind und daher kaum Rückschlüsse auf die betroffenen Staaten und Gesellschaften insgesamt zulassen? Und liegt den Anschlägen wirklich ein Plan zugrunde?
Die Getöteten sind Märtyrer für den Glauben der Überlebenden
Als ich mit meinen Studenten darüber diskutierte, ob man die Vorgänge als Christenverfolgungen charakterisieren sollte, entwickelte sich eine Diskussion: Werde der Begriff nicht womöglich instrumentalisiert; bestünde nicht die Gefahr, dass die Muslime dieser Staaten unter Generalverdacht gerieten; werde so nicht Angst geschürt? Allzu leicht können verständliche Äußerungen der orientalischen Christen hier in Deutschland zu Instrumenten verfehlter Zielsetzungen werden.
Freilich kann Christenverfolgung heute nicht das gleiche Gesicht zeigen wie in der Antike. Selbst der Trost muss heute um Ausdruck ringen oder gar zugunsten ohnmächtigen Schmerzes ausbleiben. Einer meiner Studenten im Orient berichtete mir, wie selbstverständlich die koptischen Priester nach den Anschlägen von den Getöteten als Märtyrern sprachen, denen nun im Himmel Ehre widerfahre. Im Irak singen die Christen heute wieder mit den Hymnen des Giwargis Warda: "Sie werden euch hassen und morden / Und wie Opfergaben darbringen. Aber wenn ihr auf Erden getötet werdet, / Sollt ihr euch in meinem Reiche mit mir freuen!"
So sprachen, der Überlieferung nach, einst auch die verfolgten Christen im Römischen Reich. Aber kündet nicht der verständliche Zorn der jungen Kopten in Alexandria auch davon, dass dieser Trost eben nicht bedeutet, das man es einfach hinnimmt, aus den Ländern vertrieben und verdrängt zu werden, deren
ursprünglichsten Bevölkerungsanteil man stellt? Wer im Irak die Flucht in den Norden antritt und den Süden der Gewalt überlässt, zeigt womöglich doch, dass er nicht aufgeben und sich nicht ganz vertreiben lassen möchte vom Boden des Landes, auf dem seine Vorväter seit dem zweiten Jahrhundert lebten.
Wer in Ägypten und im Irak nicht für die Christen aufsteht, der gibt mit seinem Schweigen den Raum frei und den Tätern recht, obgleich das Wort "Christenverfolgung" unter dem Aspekt von Vorsicht, Pragmatismus und
des Einfühlungsvermögens nicht opportun erscheinen mag. Wer mit dem Wort "Christenverfolgung" die Sache beim Namen nennt, möchte darauf hinweisen, dass es sich hier um keine Verfolgung wie jede andere handelt, sondern eine Gruppe gezielt im Visier der Verfolger steht, die nicht groß zwischen Armeniern,
Syrisch-Katholischen, Chaldäern, Assyrern und Aramäern im Irak unterscheiden. Die Extremisten zeigen mit ihren Übergriffen auf eine weitgehend wehrlose Minderheit, dass sie diese mit der religiösen Mehrheit im Westen gleichsetzen und als entfremdenden Faktor in einer wenigstens in Sachen Religion vergeblich um Einheit ringenden Gesellschaft betrachten.
Fast schon möchte man mit Strothmann befürchten, dass wieder nichts geschieht angesichts der Gewalt gegen die Christen im Irak. Bei den Kirchen und unter dem Einfluss der weltweiten Ökumene gäbe es, so meinte damals Strothmann, "kaum Interesse und Zeit zu ernstlichem Miterleben". Allenfalls könne von "gelegentlichem lautem, vielfach unklarem und meist schnell vorübergehendem Alarm" gesprochen werden,
der nichts am Ausfall der Betroffenen im Bewusstsein der Weltchristenheit ändere. Wird das auch dieses Mal das letzte Wort sein?
Martin Tamcke ist Direktor des Instituts für Ökumenische Theologie/Orientalische Kirchen- und Missionsgeschichte an der Georg-August-Universität zu Göttingen.
Text: F.A.Z., 25.01.2011, Nr. 20 / Seite 33
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