08.02.2018

Syrien: Lage der Christen seit Anfang 2018

Ende Januar hatten wir Gelegenheit, den Leiter einer Partnerorganisation in Syrien nach der aktuellen Lage in dem Land zu befragen. Hier sind seine Antworten.

Syrien: Lage der Christen seit Anfang 2018

Ende Januar hatten wir Gelegenheit, den Leiter einer Partnerorganisation in Syrien nach der aktuellen Lage in dem Land zu befragen. Hier sind seine Antworten.

(Open Doors) Der syrische Bürgerkrieg ist aus den Nachrichten so gut wie verschwunden. Im Irak gelten die Islamisten als besiegt. Wie sieht es aktuell in Syrien aus?

Rund um Aleppo wird nach wie vor gekämpft, genauso in der Provinz Homs, nahe Idlib und auch in den Außenbezirken von Damaskus. Die Städte und Dörfer, in denen Kämpfe stattfanden, sind massiv beschädigt worden. Weite Teile von Aleppo und Homs liegen in Trümmern. Doch auch dort haben einige Häuser und Bauwerke den Krieg überstanden. Das Stadtzentrum von Damaskus ist relativ unbeschadet geblieben, aber manche Stadtteile sind stark vom Krieg gezeichnet, viele Gebäude sind zerstört. Extremistische Gruppierungen sind weiterhin aktiv und an Kampfhandlungen beteiligt.

Was bedeutet die Fluchtbewegung der vergangenen Jahre für die syrischen Kirchen?

Vermutlich sind prozentual mehr Christen aus Syrien geflohen als von der übrigen Bevölkerung. Das liegt im Wesentlichen daran, dass sie überdurchschnittlich gut gebildet sind und über Beziehungen in andere Länder verfügen. Dadurch haben auch viele verantwortliche Mitarbeiter das Land verlassen. Sie fehlen den Kirchen jetzt schmerzlich beim Wiederaufbau.

Wie viele Christen leben noch im Land?

Momentan leben nach unseren Schätzungen noch ca. 790.000 Christen in Syrien. Vor dem Krieg waren es etwa 1,7 Millionen.

Wie hat sich die christliche Gemeinschaft durch diese Entwicklung verändert?

Die Fluchtbewegung hat viele Kirchen spürbar geschwächt. Außerdem konnten die traditionellen Kirchen durch den Krieg das ihnen vertraute Kirchenleben nicht mehr fortführen. Dadurch ist aber ein neues Bewusstsein dafür entstanden, dass Jesus seine Gemeinde zu einem Ort der Hoffnung berufen hat – sowohl für die eigenen Mitglieder als auch für die Welt außerhalb. Diese Hoffnung wird jetzt dringender gebraucht als je zuvor. Ich empfinde die syrischen Christen als sehr widerstandsfähig. Das haben sie schon während des Krieges gezeigt, als sie mit Unterstützung vieler Christen aus dem Ausland großartige Hilfe geleistet haben. Einer der Christen hier, der mich stark beeindruckt hat, ist George Sbath, ein älterer Mann aus Aleppo. Er ist geblieben, engagiert sich bis heute in verschiedenen Hilfsprojekten und bezeugt, dass Gott ihn viele Male auf wunderbare Weise vor dem Tod bewahrt hat. Er sagte mir kürzlich: „Durch eure Hilfe können wir hier vielen Menschen helfen und dadurch können sie in Aleppo bleiben. Wir wollen nicht, dass sie gehen – das will der IS. Ich werde niemals fliehen, selbst wenn sie drohen, mich zu köpfen. Nein, ich bin kein Held, der Held ist Christus, der in mir lebt!“

Welche Rolle spielen die ehemaligen Muslime, die in letzter Zeit zu Christus gefunden haben?

Sie sind ein weiterer Grund zur Hoffnung: Schon während des Krieges hat ein geistlicher Aufbruch stattgefunden. Mehr Muslime sind zum Glauben an Jesus gekommen. Der Abfall vom Islam führt jedoch immer auch zu Verfolgung. Viele dieser neuen Christen sind jung und natürlich geistlich oft noch unreif. Aus verschiedenen Gründen – die Sicherheit ist ein ganz wesentlicher davon – lassen sie sich nur schwer in die traditionellen christlichen Gemeinschaften eingliedern.

Was sind gegenwärtig die dringendsten Nöte?

Der Krieg ist noch nicht vorbei! Viele IS-Kämpfer sind nur abgetaucht und warten auf Gelegenheiten, zuzuschlagen. Außer dem IS gibt es aber auch weitere gefährliche Gruppen, die an Kampfhandlungen beteiligt sind. Die größten Probleme sind diese: Sehr viele junge Männer zwischen 18 und 42 Jahren haben Syrien verlassen. Die älteren Menschen sind oft auf Hilfe angewiesen. Unter den Jugendlichen herrscht ein massiver Bildungsrückstand. In dieser Lage kann die Kirche eine ganz wichtige Rolle spielen.

Wie sieht die Hilfe vor Ort in dieser Situation aus?

Wir konnten durch unsere guten Kontakte zu den Kirchen im Land die Entwicklungen der letzten Jahre genau verfolgen. Deshalb haben wir gemeinsam mit Open Doors die Kampagne „Hoffnung für Christen in Irak & Syrien“ („Hope for the Middle East“) gestartet. Sie ist eine Fortsetzung der gemeinsamen umfangreichen Hilfsprojekte der letzten Jahre. Der Schwerpunkt liegt jetzt auf dem Wiederaufbau statt auf Nothilfe. Dazu gehört zunächst der wirtschaftliche Wiederaufbau: In Zusammenarbeit mit Open Doors planen wir die Unterstützung von Einzelpersonen mit Kleinkrediten für den Start in eine berufliche Selbständigkeit. Einige kleine Fabriken und landwirtschaftliche Betriebe funktionieren bereits. Wir konzentrieren uns auf die Förderung von Projekten, die von Christen vor Ort selbst initiiert werden. Dabei spielen die Kirchen eine zentrale Rolle: Sie sind Anlaufstelle und Vertrauensleute für beide Seiten.

Greifen in diesem Bereich nicht auch die Aufbauhilfen der UN und anderer großen Organisationen? Wie genau sieht eure Rolle aus?

So sollte es sein, aber das geht oft nicht so schnell. In Homs besuchten Mitarbeiter kürzlich einen Priester, der fast ununterbrochen dort geblieben ist. Er betreut mehrere unserer Hilfsprojekte in Homs und berichtete, dass sie sich gut entwickeln. Auch UN-Vertreter hätten das bemerkt und seien deshalb jetzt interessiert, in ähnliche Projekte vor Ort zu investieren. Hier haben Christen also eine Vorreiterrolle eingenommen. Der besondere Schwerpunkt unseres Dienstes liegt aber woanders. Wir möchten die Kirchen darin unterstützen, Orte der Hoffnung für Christen, aber auch für die ganze Bevölkerung zu werden. Hier herrscht ein großer Bedarf an Schulungsmaßnahmen, angefangen mit einem klaren Verständnis von dienender Leiterschaft. Pastoren und Mitarbeiter sollen befähigt werden, Traumaseelsorge zu leisten, andere im Glauben zu stärken und in Jüngerschaft auszubilden; auch Vorbereitungsseminare zum richtigen Umgang mit Verfolgung gehören dazu. Hinzu kommen berufliche Bildungsmaßnahmen. Zwei Zielgruppen, denen wir uns besonders widmen, sind Frauen und Jugendliche. Dank der Unterstützer von Open Doors haben wir bereits zwei sogenannte Hoffnungszentren aufgebaut, bis 2020 sollen es insgesamt 60 landesweit sein. Dort finden je nach den Möglichkeiten der Gemeinde vor Ort, dem Grad der Zerstörung und den Bedürfnissen solche und ähnliche Maßnahmen statt. Die Angebote und das Ausmaß der Arbeit werden laufend erweitert und angepasst.

Seit zwei Wochen gibt es eine neue Kriegsfront durch den Einmarsch türkischer Truppen. Wie ist die Situation dort und was bedeutet das für die Christen?

Das macht uns einige Sorge. Die Christen in Afrin und der Umgebung werden jetzt zusammen mit Angehörigen anderer religiöser Minderheiten von dort vertrieben. Darunter sind auch Flüchtlinge, die in der Vergangenheit aus anderen Teilen Syriens im bislang relativ sicheren Grenzgebiet zur Türkei Zuflucht gesucht haben. Sie brauchen dringend unser Gebet. Ein dortiger Pastor hat sich mit einem Hilferuf an die Öffentlichkeit gewandt. Er schreibt: „Dieses brutale Bombardement und die Angriffe auf die Zivilbevölkerung werden unweigerlich zu einer Tragödie führen, […] die die Wunden unseres bereits verwundeten syrischen Heimatlandes weiter vertiefen werden. Wir hoffen, dass wir alle im Gebet zusammenstehen und bitten Gott um seinen Schutz, damit er das Böse abwendet.“ (englisches Original).

Open Doors bittet: Bitte stehen Sie unseren Geschwistern in Syrien weiterhin betend und helfend zur Seite! Hier finden Sie alle Informationen zu der Kampagne „Hoffnung für Christen in Irak & Syrien“ sowie Gebetsanliegen, Möglichkeiten zum Spenden und mehr.