22.06.2019
Islamische Welt: Scharia: Rechts- und Lebensform
Professor und Fachbereichsleiter für Philosophie und Religionswissenschaft an der Staatsunabhängigen Theologischen Hochschule Basel, Harald Seubert, erklärt, was Scharia bedeutet.
Wenn man das Wort Scharia hört, denkt man an drakonische Strafen des islamischen Strafrechts. Doch die Scharia ist für Muslime viel mehr: Sie gilt als vollkommene Ordnung aller Lebensbereiche, die Frieden und Gerechtigkeit schafft. Der Professor und Fachbereichsleiter für Philosophie und Religionswissenschaft an der Staatsunabhängigen Theologischen Hochschule Basel, Harald Seubert, erklärt, was Scharia bedeutet und ob sie mit unserer Verfassung vereinbar ist.
Durch verstärkte Migrationsbewegungen und eine globalisierte Welt ist das islamische Rechtssystem, die Scharia, längst in der westlichen Welt angekommen. Die Frage, ob die „offene Gesellschaft“ unter dem Grundgesetz und das Scharia-Recht miteinander vereinbar seien, muss sich unweigerlich stellen.
Im Scharia-Recht ist ein Leben gemäß dem Islam und im Gehorsam vor Allah festgeschrieben. Mohammed, der Prophet, wurde offensichtlich wiederholt in Rechtsstreitigkeiten als Schiedsrichter angerufen. Daraus leitet sich her, dass islamische Theologie in ihrem Zentrum Rechtsauslegung ist. Der Islam ist im Zweifel eher an Orthopraxie (dem richtigen Handeln) als an Orthodoxie (dem richtigen Glauben) interessiert. Diese durchgehende Regulierung des menschlichen Lebens durch die Scharia bedingt es, dass der Islam mehr als eine Religion ist, nämlich eine durchgehende Orientierung menschlichen Verhaltens.
Mohammed ist der mustergültige Muslim
Seit dem 9. Jahrhundert ist das Scharia-Recht schriftlich kodifiziert. Das maßgebliche Handbuch ist im 14. Jahrhundert endgültig niedergelegt worden. Demgemäß besteht die Scharia aus vier Elementen: dem Buch, also dem Koran (kitab), der Sunna: der Überlieferung der Gläubigen, wobei die nichtkoranischen Zeugnisse über Mohammeds Leben und seine Handlungen in den Hadithen die zentrale Rolle spielen, dem Konsens der Rechtsgelehrten und dem Analogieschluss als methodisches Instrument. Mohammed, das „Siegel der Propheten“, gilt als uneinholbares Vorbild, als der mustergültige Muslim. Sein Vorbild ist deshalb Richtschnur. Diese starke Orientierung an Mohammed zeigt sich in der Scharia eindeutig. Die strikte Unterscheidung zwischen „erlaubt“ (halal) und „verboten“ (haram) durchzieht das gesamte öffentliche und private Leben.
Das ganze Leben ist geregelt
In Mohammeds Leben ist auch die Einheit von Religion, Politik und militärischer Macht vorgeprägt, die auch das Scharia-Recht prägt. Das islamische Recht bezeichnet „Die Gesamtheit der Regeln, denen ein Muslim folgen muss, wenn er den Anforderungen seines Glaubens genügen soll“ (Dilger). Geregelt sind religionsrechtliche und rituelle Fragen (Gebetsrichtung nach Mekka; Gebetshaltungen), sodann Privatrecht und Öffentliches Recht. In diesem Zusammenhang spielt das Eherecht eine herausragende Rolle, allein schon durch den Umfang der Bestimmungen. Es lässt grundsätzlich Polygamie mit bis zu vier Frauen zu und reguliert u. a. die Verschleierung, das Verbot des Blickkontakts in der Öffentlichkeit und reglementiert den Zugang der Frau in die Öffentlichkeit. Dabei fällt eine starke Fokussierung auf die männliche Perspektive auf.
Grausame Strafen
Das Scharia-Recht ist mit einem klaren strafrechtlichen Fokus formuliert. Recht bewahrheitet sich als Strafrecht. Als Kapitalverbrechen gelten Blasphemie, Ehebruch, Unzucht, falsche Verleumdung, schwerer Diebstahl, Straßen- und Raubmord sowie die Anstiftung dazu. Die Scharia sieht hier Strafen von einer teilweise unverhältnismäßig großen Grausamkeit vor: etwa die Steinigung bei Ehebrecherinnen, die besonders schmerzhaft und quälend vollzogen werden soll (im Unterschied zu Bestimmungen im Alten Testament).
Eine zweite Kategorie bilden die Ermessensstrafen (ta’zir-Strafen), wie Urkundenfälschung, Betrug und Erpressung. Hier ist dem Richter in der Festsetzung der Strafen ein relativ hoher Spielraum zugewiesen. Die dritte Kategorie bilden Strafen, die auf dem Prinzip der Wiedervergeltung (arab. Quisâs) beruhen. Bezeichnenderweise fallen darunter auch Tötungsdelikte: Das ist ein Indiz dafür, dass Würde und Schutz des individuellen Lebens nicht das zentrale Gut sind. Durch die Wiedervergeltungsstrafen wird nach islamischem Selbstverständnis nicht die Rechtsordnung Allahs, sondern nur menschliches Recht gebrochen.
Die Regeln gelten auch für Nichtmuslime
Das Scharia-Recht gilt nicht nur für Muslime. Es regelt auch das Verhältnis zwischen Muslimen und Nichtmuslimen. Nichtmuslime, die in islamischen Ländern leben, unterliegen ihrerseits der Scharia, etwa dem Alkoholverbot. Während der Lebensbereich des Islams als „Haus des Friedens“ gilt, gilt die nichtislamische Welt als „Haus des Krieges“. Dazwischen stehen die „Schriftbesitzer“ (die Dhimma): In der Geschichte waren dies vor allem Juden und Christen. Obwohl es Phasen eines friedlichen und gedeihlichen Zusammenlebens unter islamischer Herrschaft gab, vor allem im Spanien des Hochmittelalters, ist der Status der Schriftbesitzer im Einzelnen prekär. Sie sind nach islamischer Auffassung nicht nur „Besitzer“ der Schrift, sondern auch deren Verfälscher: Die Gottesoffenbarung kommt erst durch Mohammed in der reinen Form zu den Menschen. Schriftbesitzer stehen gemäß der Scharia unter dem Schutz der islamischen Gesellschaft. Sie müssen allerdings eine oftmals hohe „Kopfsteuer“ entrichten. Die Geschichte zeigt zudem, dass sie immer wieder mit Erniedrigungen und Demütigungen durch die islamische Mehrheitsgesellschaft zu rechnen hatten. Es wäre ein Euphemismus, würde man die Schriftbesitzer als „Bürger zweiter Klasse“ bezeichnen, wie es vielfach geschieht. Sie sind eher Begnadigte des Kriegszustands, mit denen ein vorübergehender, jederzeit kündbarer Waffenstillstand geschlossen wird.
Menschenrechte unter Vorbehalt der Scharia
Die Scharia ist für einen gläubigen, othodoxen Muslim uneingeschränkt verbindlich und gültig. Sie ist die Norm vor anderen Normen, denn sie geht unmittelbar von dem alles bestimmenden und reglementierenden Willen Allahs aus. Wenn behauptet wird, dass die Scharia mit einem modernen Rechtssystem wie dem Grundgesetz koexistieren könnte, so schließt das ein, dass in Zweifels- und Konfliktfeldern die Scharia und nicht das Grundgesetz entscheidet. Demgemäß stehen universalistische Normen unter dem Vorbehalt, dass sie in Übereinstimmung mit der Scharia stehen müssen. Aufschlussreiches Beispiel ist die von einer Vielzahl islamischer Staaten angeeignete Kairoer Menschenrechtserklärung (1994), die die Menschenrechte unter diesen Vorbehalt stellte. Die Überzeugung vieler Muslime, dass Islam und Scharia auch die beste mögliche Lösung für die Probleme der westlichen Welt bieten und der Westen durch seine Dekadenz gelähmt ist, widerspricht überdies der Erwartung einer zunehmenden Angleichung.
Das Ziel ist die Wiedererrichtung des Kalifats
Die Scharia enthält bestimme Zweckbestimmungen, die die Koexistenz mit neuzeitlich geprägten Demokratien erschweren oder unmöglich machen: Ihnen gemäß ist ein Muslim auf den (kleinen) Dschihad, den Kampf und die Verteidigung des Islams in der Welt verpflichtet. Diese Verpflichtung kann eine große Spannweite haben, vom bewaffneten Kampf über nichtkriegerische politische Aktionen. Je nach Situation kann sich die Reichweite des Dschihad verändern. Es besteht auch die Möglichkeit, sich von dieser Verpflichtung durch Unterstützung des aktiven Dschihad freizukaufen. Die Dschihad-Verpflichtung erklärt, weshalb es islamischen Autoritäten bis heute schwerfällt, eindeutige Abgrenzungen gegenüber terroristischen Aktionen vorzunehmen.
Ebenso setzt die Scharia das Kalifat, das geeinte Reich unter einem Herrscher, der zugleich religiöser und politischer Führer ist, voraus. Die Wiedererrichtung des Kalifats als gottgewollter islamischer Ordnung ist eine herausragende Verpflichtung. Die Koexistenz von Scharia und nichtislamischen Rechts- und Lebensformen sollte deshalb nur vorübergehend sein. Der Islam ist in vollkommener Weise nur unter einem islamischen Herrscher zu leben.
Eine Reform der Scharia wird kaum akzeptiert
Die Erwartung, dass sich der Islam in Europa an die Rechtsstruktur der dortigen Nationalstaaten angleicht, ist von der Scharia her nicht realistisch: Sie bildet ein festgesetztes Rechtssystem, das auf göttliche Gesetzgebung zurückgeht.
Das Scharia-System ist im Wesentlichen abgeschlossen. Forderungen, es zu reformieren, wie sie u. a. von den Vertretern des Euroislams erhoben und auf eine neue Rechtsordnung, dem islamischen Leben in freien, offenen Gesellschaften bezogen werden, werden nur von einem Bruchteil der Muslime, auch in der westlichen Welt, akzeptiert.
Die Rechtssysteme einiger westlicher Staaten (Großbritannien) schließen die Verwendung von Teilen der Scharia in Rechtsprozessen ausdrücklich aus. In Deutschland wurde eine solche eindeutige Grenzlinie nicht gezogen, und längst spielen in Plädoyers und Urteilssprüchen auch Scharia-Kontexte eine Rolle.
Fehlende Trennung von Politik und Religion
Noch problematischer als einzelne Regelungen der Scharia sind die dauerhaften strukturellen Prinzipien der Scharia: die fehlende Trennung von Politik und Religion und die systematische Zweiteilung der Rechtsmaterie in Bestimmungen für Muslime und andere für Nichtmuslime. Dies gilt u. a. im Vertragsrecht. Ein definitiv bindender staatsrechtlicher Vertrag kann mit Nichtmuslimen nicht eingegangen werden. Das ist auch ein permanentes Problem in den Vertragsverhältnissen der Hamas zu Israel. Die Leitlinie der Scharia bewirkt ein asymmetrisches Verhältnis.
Der Politologe Bassam Tibi bezeichnete die Scharia als „totalitäres Rechtssystem“. Sie fordert entweder Gehorsam und Unterwerfung oder Auswanderung.
Der Geist des Grundgesetzes
Unstrittig ist, dass die Scharia zur Spaltung in der islamischen Welt beiträgt: zu konkurrierenden geistlichen und weltlichen Hegemonialvorstellungen. Unter der „Wunde des Islams“ leiden die Muslime an erster Stelle. Ein begründeter christlicher Glaube, der auch die Konsequenzen christlichen Lebens für menschliches Zusammenleben sichtbar macht, setzt den Bund Gottes mit den Menschen als Grundlage der Bürgergemeinde voraus. Hier findet sich eine Freiheit, die man dauerhaft nicht ohne den Bezug auf Gott haben kann. Sie kann auch in den Zuwanderungsgesellschaften in der Lage sein, auf das Scharia-Recht zu antworten, ohne Hetze und ohne falsche Illusionen. Der Geist des Grundgesetzes bietet dafür eine gute Voraussetzung.