26.07.2022

Tunesien: Islam bald nicht mehr Staatsreligion?

Christen erwarten aber keine Verbesserung ihrer Situation

Tunis (IDEA) – Der Islam könnte in Tunesien den Rang einer Staatsreligion verlieren. Das sieht der Entwurf für eine neue Verfassung vor. Die Bevölkerung hat auch darüber am 25. Juli abgestimmt. Mit ersten Ergebnissen wird im Laufe des 26. Juli gerechnet. Laut dem Entwurf soll der Islam dann allerdings weiterhin offiziell als Religion der tunesischen Nation gelten. Die Sprecherin einer Partnerorganisation von Open Doors in Nordafrika (Namen können aus Sicherheitsgründen nicht genannt werden) warnte im Gespräch mit der Evangelischen Nachrichtenagentur IDEA vor allzu hohen Erwartungen an die neue Verfassung, die Präsident Kais Saied im Vorfeld der Abstimmung vorgestellt hatte: „Es ist noch gar nicht sicher, wie das Referendum ausgeht. Und selbst wenn der Islam dann nicht mehr Staatsreligion sein sollte, wird sich die Situation der christlichen Minderheit kaum verbessern.“ Denn die Diskriminierung von Christen – insbesondere von Konvertiten, den sogenannten „Muslim Background Believers“ (MBBs, Gläubige mit muslimischem Hintergrund) – basiere weniger auf den geltenden Gesetzen als auf der Haltung der Behörden. „Weil die Beamten in Tunesien meistens strenggläubige Muslime sind, spielt es im Grunde keine Rolle, was das Gesetz sagt.“

Der Sturz Ben Alis hat die Situation der Christen verschlimmert

Nachdem der langjährige Machthaber Zine El Abidine Ben Ali (1936–2019) im Januar 2011 gestürzt worden sei, hätten die Christen zuerst auf eine Verbesserung ihrer Lage gehofft, wie die Specherin weiter ausführte. „Aber schon nach kurzer Zeit wurde die neue Regierung von Islamisten unterwandert.“ Der frühere Staatspräsident Ben Ali habe zwar autoritär regiert, aber zugleich den radikalen Islam bekämpft. Sein Sturz habe den islamischen Extremisten deshalb in die Hände gespielt. „Sie wollen keine Christen im Land haben.“ Der Druck, dem die christliche Minderheit ausgesetzt sei, habe in den letzten Jahren zugenommen.

Missionierung ist verboten

In Tunesien gibt es offiziell kein Gesetz, das den Übertritt vom Islam zum Christentum verbietet. Dennoch dürfen Christen nicht missionieren oder mit Muslimen über ihren Glauben sprechen. „Das gilt selbst für ausländische Touristen“, wie ein einheimischer Christ gegenüber IDEA berichtete. Wer als Ausländer evangelisiere, müsse damit rechnen, bei der ersten Gelegenheit ausgewiesen zu werden. Er ist selbst Konvertit und schildert, wie die Polizei Versammlungen von „Muslim Background Believers“ zu unterbinden versucht: „Im Gegensatz zu den Angehörigen der traditionellen Kirchen – Katholiken, Orthodoxe, Anglikaner – dürfen wir Konvertiten uns noch nicht einmal zum Gottesdienst treffen. Wenn die Polizei von unseren heimlichen Treffen in Privathäusern erfährt, werden sie aufgelöst.“ Hinzu komme, dass es keine christlichen Schulen im Land gebe. Die Kinder der Christen müssten also die staatlichen Einrichtungen besuchen, wo sie ausgegrenzt würden. Daran werde sich auch mit einer neuen Verfassung nichts ändern.

Was der Verfassungsentwurf vorsieht

Die neue Verfassung würde dem Präsidenten deutlich mehr Macht zusprechen – zulasten von Parlament und Justiz. Er dürfte dann unter anderem die Regierung sowie Richter ernennen und entlassen. Es ist auch keine Instanz mehr vorgesehen, die den Präsidenten kontrollieren oder des Amtes entheben könnte. Präsident Saied sieht die bisherige Verfassung nach eigenen Angaben als nicht mehr gültig an. Er regiert seit dem Vorjahr vor allem per Dekret. Von den 12 Millionen Einwohner Tunesiens sind über 99 Prozent Muslime. Jeweils 0,2 Prozent sind Christen und Agnostiker.