05.08.2024
Iran: Iranische Republik gegen Demonstranten
Systematischer Einsatz sexueller Gewalt
(israelnetz.com / von Carmen Shamsianpur vom 5. August 2024) Die Islamische Republik Iran hat im Zuge der „Frau-Leben-Freiheit“-Proteste im Jahr 2022 Zehntausende Demonstranten festgenommen und viele von ihnen misshandelt. Betroffene berichten, welche Rolle dabei sexuelle Gewalt spielte.
Leserhinweis: Dieser Text enthält verstörende Beschreibungen schwerer sexueller Gewalt.
Die Islamische Republik Iran setzt systematisch sexuelle Gewalt gegen Demonstrantinnen und Demonstranten ein. Die meisten Opfer reden nicht darüber. Sie sind traumatisiert oder haben Angst vor weiteren Repressalien. Das oppositionelle Nachrichtenportal „Iran International“ hat ein Jahr lang zu dem Thema recherchiert und sechs Betroffene im Alter zwischen 19 und 43 Jahren sowie Angehörige interviewt.
Systematik
Die Berichte der sechs Demonstranten legen den systematischen Einsatz sexueller Gewalt durch das iranische Regime nahe. Sie stammen aus fünf verschiedenen Provinzen des Landes. Die Übergriffe richteten sich nicht nur gegen Frauen. Unter den Interviewpartnern sind drei Männer. Ebenso waren Frauen als Täterinnen involviert.
Die Tathergänge weisen ähnliche Muster auf. Die Übergriffe begannen jeweils verbal und physisch unmittelbar nach der Festnahme. Sie begannen mit Belästigung während der Fahrt in Polizeifahrzeugen und gipfelten in schweren sexuellen Übergriffen in Haft oder an anderen Orten wie Wohnungen, Gassen, Lagerhallen und medizinischen Einrichtungen. Den Demonstranten wurden jeweils die Augen verbunden. Sie erkannten ihre Umgebung an Geräuschen und Gerüchen.
Es waren immer mehrere Sicherheitsbeamte zugegen. Die Interviewten gaben an, jeweils weitere Personen zu kennen, denen es ähnlich erging, die aber nicht darüber reden wollen oder können.
Verbrechen der „Nacktheit“
Die Gewalt richtete sich offensichtlich nicht nur gegen die Individuen, sondern gegen die Bewegung als solche. Die Demonstranten sollten davon abgehalten werden, sich nach ihrer Freilassung wieder an Protesten zu beteiligen. Der Bericht von „Iran International“ bezeichnet den „Frau-Leben-Freiheit“-Aufstand als die damals „größte Herausforderung für das klerikale Regime“.
Die Behandlung durch die Polizei zielte darauf ab, ein Gefühl der Verlassenheit erzeugen und den Sinn der gesamten Bewegung infrage zu stellen. In der Regel mussten sich die Verhafteten nackt ausziehen. Ein Mann wurde gefragt: „Was gibt es Neues von den Nackten aus der Revolution?“ Sie bezogen sich auf die angebliche Bereitschaft vor allem der weiblichen Demonstranten, „sich nackt zu machen“ und „Unmoral“ zu verbreiten. Dabei ist „Nacktheit“ ein Ausdruck, der auf Frauen ohne Kopftuch angewandt wird.
Erniedrigung und Isolation
Einer Frau wurde gedroht, dass man sie ersticken und ihre Leiche ins Meer werfen werde. „Als Todesursache stellen wir Suizid fest. Deine Familie bringen wir in Schande.“ Polizistinnen hielten sie fest, während ein Mann sie missbrauchte.
Eine Mutter berichtet, dass Polizisten ihre Tochter unter ständigen Morddrohungen schlugen und missbrauchten. Sie redeten ihr ein, dass „draußen“ niemand auf sie warte. „Deiner Familie teilen wir mit, du hättest das Land verlassen. Deine Leiche vergraben wir.“
Teilweise erzwangen die Beamten durch diese Art der psychischen und physischen Bedrängung auch Geständnisse. Demonstranten sollten beispielsweise unterschreiben, Sicherheitspersonal angegriffen zu haben.
Männliche Opfer und weibliche Täter
Die Demonstranten, die von Übergriffen durch Polizistinnen berichteten, beschrieben diese als streng islamisch in den „Tschador“ gekleidet. Die schwarze Ganzkörperumhüllung lässt nur einen Augenschlitz oder das ganze Gesicht sowie eventuell die Hände unbedeckt. In mindestens einem gemeldeten Fall waren sie direkt an der sexuellen Gewalt gegen eine Demonstrantin beteiligt.
Die Männer unter den Betroffenen berichten von schweren Schlägen mit Gegenständen wie Stühlen und Tritten, bevorzugt in die Genitalien. Teilweise erzählen sie, dass ihnen unbekannte Substanzen injiziert und sie mit Wasser übergossen wurden. Sie alle mussten sich nackt ausziehen.
In einem besonders schweren Fall sexuellen Missbrauchs wurde ein Mann mit einem Gegenstand gewaltsam penetriert. Erst nach mehreren Tagen wurde ihm eine Untersuchung – ohne Behandlung – zuteil. Die Person teilte ihm mit, dass sein „Anus gerissen“ sei. Nach etwa zwei Monaten kam der Demonstrant frei. Er kenne viele Leute, die ähnliche Erfahrungen gemacht hätten, sagt er.
Schwere körperliche und seelische Schäden
Sowohl Männer als auch Frauen berichten, bis zur Bewusstlosigkeit geschlagen worden zu sein. Auch in den Interviews konnten sie über viele ihrer Erfahrungen nicht detailliert sprechen. „Ich sage nur, ich wurde vergewaltigt“, sagte eine Frau. „Es ist zu schwierig für mich, Einzelheiten zu nennen.“ Ein Mann konnte sich nur in Anwesenheit seines Therapeuten interviewen lassen. Einige berichten von Bekannten, die durch ihre Erfahrungen in den Selbstmord getrieben wurden.
Die Opfer leiden neben ihren physischen Verletzungen unter Stress und Schlafstörungen, Depressionen und posttraumatischen Belastungsstörungen. Viele nehmen therapeutische Hilfe in Anspruch. Aber nicht jeder findet eine Person, der er sich anvertrauen kann. Eine gerichtliche Verfolgung der Taten ist nahezu ausgeschlossen. Obwohl Vergewaltigungen nach iranischem Recht verboten sind, weist die Justiz Klagen von Demonstranten in der Regel ab, selbst wenn Beweismaterial vorliegt.
Die meisten Betroffenen sprechen überhaupt nicht über das, was ihnen angetan wurde. Bei ihnen hat die Gewalt ihr Ziel erreicht und sie zum Schweigen gebracht. Die Zahl der Opfer sexueller Gewalt wird deswegen unbekannt bleiben, solange das Regime an der Macht ist.