02.12.2024

Deutschland: "Vorstoß zu Paragraf 218 ist verantwortungslos"

Gnadauer Präses Steffen Kern äußerte sich auf der württembergischen Landessynode

Stuttgart (IDEA) – Der Präses des Evangelischen Gnadauer Gemeinschaftsverbandes, Pfarrer Steffen Kern (Walddorfhäslach) hält den aktuellen Vorstoß zur Neuregelung des Abtreibungsrechts für verantwortungslos. Er äußerte sich auf der württembergischen Landessynode in Stuttgart. Das Kirchenparlament debattierte am 29. November über die Zukunft von Paragraf 218 des Strafgesetzbuches (Abtreibungsverbot). Hintergrund ist eine Initiative von rund 240 Bundestagsabgeordneten, die einen Gesetzentwurf zur Abschaffung von Paragraf 218 einbringen wollen. Über diesen Gesetzentwurf soll noch vor der Bundestagswahl am 23. Februar 2025 entschieden werden. Vorgeburtliche Kindstötungen sollen demnach nicht mehr im Strafgesetzbuch, sondern in einem Schwangerschaftskonfliktgesetz geregelt werden. Bis zur zwölften Woche nach der Empfängnis sollen Abtreibungen als rechtmäßig gelten. Die Beratungspflicht soll bestehen bleiben, aber die Frist zwischen Beratung und Durchführung der vorgeburtlichen Kindstötung von derzeit drei Tagen entfallen. 

Entscheidung in der Hochphase des Wahlkampfes

Kern, der als Synodaler dem theologisch konservativen Gesprächskreis „Lebendige Gemeinde“ angehört, bekundete seine Ablehnung des Gesetzentwurfs. Aus evangelischer Sicht sei eine Balance zu finden zwischen dem Grundrecht des Ungeborenen auf Leben und dem Recht der Schwangeren auf Selbstbestimmung und körperliche Unversehrtheit. Die neuen Vorschläge seien in vielfältiger Weise fragwürdig, etwa die generelle Rechtmäßigkeits-Erklärung oder die Streichung der Frist zwischen Beratung und Durchführung der Abtreibung. Die Beratung werde dadurch ausgehöhlt, denn eine verantwortliche Entscheidung bedürfe des Innehaltens und eines Mindestmaßes an Zeit. Weiter sagte Kern, grundlegende ethische Debatten könnten zwar zu Sternstunden des Parlamentes werden, „aber einen solchen Vorschlag jetzt einzubringen – primär aus machtstrategischen Erwägungen – in einer novemberlichen Nacht-und-Nebel-Aktion halte ich für fragwürdig und letztlich auch verantwortungslos. Eine Entscheidung über so weitreichende, komplexe und hochsensible ethische Grundsatzfragen braucht Freiheit und Zeit.“ Beides sei nun nicht gegeben. In der Hochphase des Wahlkampfes müsste folglich im Januar eine Entscheidung getroffen werden. „Und wir wissen, wie aufgeladen die Stimmung in unserem Land ist. Das ist eine unwürdige Konstellation. Sie passt nicht zur politischen Kultur in unserem Land.“

Neue Konstellation nach der Bundestagswahl

Die ehemalige SPD-Bundestagsabgeordnete Annette Sawade (Schwäbisch Hall) von der Mitte-Gruppierung „Evangelium und Kirche“ befürwortete dagegen eine Liberalisierung der Abtreibungsgesetzgebung. Gerade angesichts der anstehenden Bundestagswahlen im Februar sei das notwendig. „Es wäre eine Katastrophe, wenn wir durch neue politische Konstellationen hinter die jetzige Regelung zurückfallen würden.“ Sie begrüße zudem den Erhalt der Beratungspflicht, was ihr als ehemalige Vorsitzende von „Pro Familia Stuttgart“ besonders wichtig sei. Auch Christiane Mörk (Brackenheim bei Heilbronn) von der linksliberalen „Offenen Kirche“ nannte den Gesetzentwurf akzeptabel. Ihr sei insbesondere die Beratungspflicht wichtig, um möglichst viele Frauen zu erreichen, die eine Abtreibung durchführen lassen wollten. Und die solle schließlich auch laut dem neuen Gesetzentwurf weiterhin gelten.

Auch an behinderte Kinder denken

Prof. Martina Klärle (Weikersheim/„Offene Kirche“) gab zu bedenken, dass viele Kinder im Mutterleib getötet würden, wenn bei ihnen eine Behinderung prognostiziert werde. Diese Vorhersage stelle sich nur in etwa 70 Prozent der Fälle als richtig heraus. Auch in diesen Fällen „sollte man sich das überlegen, gerade angesichts unserer Historie“. Außerdem beklagte Klärle, dass bisher immer nur die Frauen, die eine Abtreibung durchführen ließen, verurteilt würden. „Es kann nicht sein, dass, wenn sich ein Paar für eine Abtreibung entscheidet, allein die Frau straftätig wird, egal ob geahndet oder nicht, und der Mann nicht.“

 

Das Recht der Frau auf Selbstbestimmung

Die Synodale Anja Faißt (Ludwigsburg) von der Reforminitiative „Kirche für morgen“ betonte die Bedeutung des Rechts der Frau und auch der Paare auf Selbstbestimmung. Die Kirche solle sich allerdings auch dafür einsetzen, die Rahmenbedingungen für Frauen und für Paare zu verbessern, damit sie sich für Kinder entscheiden könnten. Dazu gehörten etwa die Ausweitung der Angebote zur Kinderbetreuung, die Schaffung von Wohnraum und die Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf.

Die Kirche muss die Stimme für die Ungeborenen erheben

Ute Mayer (Renningen/„Lebendige Gemeinde“) kritisierte die Art und Weise, mit der der Gesetzentwurf noch durchs Parlament „gepeitscht“ werden solle. Es gehe beim Umgang mit dem Leben eines ungeborenen Kindes nicht um eine „parteipolitische Machtfrage. Ein Kind ist ein von Gott geliebter Mensch von Anfang an.“ Es habe ein Recht auf Leben und dafür solle die Kirche ihre Stimme erheben. Es sei zudem wichtig, dass Schwangere von Anfang an Unterstützung erhielten, indem ihnen z.B. bei der Kinderbetreuung oder der Beschaffung einer Erstausstattung geholfen werde. Es gelte generell, an der Seite der betroffenen Frau zu bleiben, egal wie sie sich entscheide. Ähnlich äußerte sich Pfarrerin Maike Sachs (St. Johann/Schwäbische Alb/„Lebendige Gemeinde“). Sie berichtete darüber hinaus, dass sie zu den Menschen gehöre, deren Weiterleben über die zwölfte Schwangerschaftswoche hinaus nicht sicher gewesen sei. Die Ärzte hätten ihrer Mutter deshalb zu einer Abtreibung geraten. Sie sei ihr dankbar, dass sie sich dagegen entschieden habe. „Sie konnte es, weil ihr weiterer Weg eingebettet war in eine verlässliche Beziehung, eine Partnerschaft, eine Familie und eine Gemeinschaft.“

Noller: Schwangere werden mit der geltenden Regelung nicht kriminalisiert

Die Vorstandvorsitzende des Diakonischen Werks Württemberg, Oberkirchenrätin Annette Noller (Stuttgart), berichtete, dass das Kammernetzwerk der EKD ein Papier zu Paragraf 218 erarbeitet habe, das in der nächsten Woche in den Rat der EKD eingebracht werden solle. Sie wies darauf hin, dass Frauen durch den Paragrafen nicht kriminalisiert würden. Ab dem Moment, in dem eine Frau sich beraten lasse, bleibe sie außerhalb der Strafbarkeit. Umgekehrt dränge der Paragraf 218 allerdings dazu, die Bedeutung einer Abtreibung im Blick auf das werdende Leben zu bedenken. Aus ihrer Sicht solle eine Beratung auch dann verpflichtend sein, wenn eine Behinderung oder Erkrankung des Kindes festgestellt worden sei. Die Tagung der Landessynode ist am 30. November zu Ende gegangen. Sie hat 91 Mitglieder. Im Gegensatz zu allen anderen Landeskirchen werden die württembergischen Synodalen per Urwahl direkt von den Kirchenmitgliedern gewählt. Die württembergische Landeskirche ist mit knapp 1,77 Millionen Mitgliedern in 1.169 Gemeinden die fünftgrößte EKD-Gliedkirche.