09.12.2024
Syrien: Das Assad-Regime ist Geschichte
Eine Gruppe von Dschihadisten stürzt das Al-Assad-Regime, die Syrer feiern ihre „Befreiung“. Israel sieht Chancen für einen neuen Nahen Osten, doch der Umsturz birgt Risiken.
(Von Israelnetz/9. Dezember 2024) DAMASKUS / JERUSALEM (inn) – Bereits früh am Sonntag, dem Tag der spektakulären Ereignisse in Syrien, stand fest: Der 8. Dezember wird in die Geschichtsbücher eingehen. Am Samstag, genau 14 Monate nach dem Massaker der Terror-Organisation Hamas in Südisrael, gingen viele Israelis mit der Frage schlafen: „Was passiert in Syrien? Ob die Dschihadisten Damaskus einnehmen und Al-Assad stürzen werden?“
Als sie am nächsten Morgen aufwachten, rieben sie sich ungläubig die Augen: Nach 54 Jahren war das Al-Assad-Regime gestürzt. In weniger als zwei Wochen hatte eine Gruppe von Dschihadisten die syrische Hauptstadt eingenommen. Dass die Situation in Syrien seit Jahren instabil war, war allen in der Region bekannt. Doch dass die Führung in Damaskus nach 13 Jahren Bürgerkrieg letztlich so schnell stürzen würde, damit hatte kaum jemand gerechnet.
Ein Dschihadist, der die Levante befreien will
Verantwortlich für diesen Sturz ist die Islamistengruppe „Hai’at Tahrir asch-Scham“, wörtlich das „Komitee zur Befreiung der Levante“ (HTS). Gegründet hatte die Gruppe 2017 Abu Muhammad al-Dschulani. Dieser ist 1982 als Ahmad Husain Asch-Schar’a in Saudi-Arabien geboren. Sein Vater stammt nach eigenen Angaben aus den Golanhöhen, daher der gewählte Kampfname „Al-Dschulani“ (aus dem Golan stammend).
Al-Dschulani kämpfte im Irak, hatte aber vor allem die Errichtung eines islamistischen Regimes zum Ziel. 2011 wurde er nach Syrien geschickt, um die Al-Nusra-Front zu führen, die der Al-Qaida nahestand und die Ziele verschiedener islamistischer Gruppierungen vereinigte. Aufgrund seiner Aktivitäten bei der Al-Nusra-Front setzten die USA im Jahr 2017 ein Kopfgeld von 10 Millionen US-Dollar aus.
2016 bedankte sich Al-Dschulani öffentlich für die Unterstützung durch Al-Qaida und kündigte die Gründung der HTS an. Seitdem verwaltet er in der nordsyrischen Provinz Idlib eine Form des „Staates im Staat“, der sich stark gegen die Führung unter Al-Assad richtete.
In einem Interview, das Al-Dschulani vor drei Jahren der in den USA basierten Medienunternehmen „PBS Frontline“ gegeben hatte, sprach er davon, dass er stark durch die „Zweite Intifada“ geprägt und propalästinensisch erzogen worden sei. Bei der „Zweiten Intifada“ führten die Palästinenser von September 2000 bis Februar 2005 Jahre einen Terrorkrieg gegen Israel, bei dem rund 1.000 Israelis getötet wurden.
Sunniten freuen sich über den Sturz
In der Jerusalemer Altstadt steckten Araber am Sonntag aufgeregt die Köpfe über ihren Handys zusammen: „Es wurde Zeit, dass dieses Verbrecherregime abgesetzt wird“, sagte einer, der 1974 selber in Syrien gewesen war und sich schon damals gegen Hafis al-Assad (1930–2000), den Vater von Baschar al-Assad , ausgesprochen hatte.
In seinem Laden zeigt er auf seinem Laptop den YouTube-Kanal des katarischen Senders „Al-Dschasira“: „Schau mal, wie viele Frauen und Kinder in diesem Gefängnis in Damaskus gehalten wurden.“ Die Aufnahmen sollen zeigen, wie Dschihadisten des HTS in das berüchtigte Foltergefängnis Sajidnaja dringen und wie dort dutzende Frauen gefangen gehalten werden. Ein anderer Mann, der 1967 für die jordanische Armee gekämpft hatte, sagte: „Meine Frau ist in Damaskus geboren. Und ich bin so froh, dass dieser Verbrecher Al-Assad endlich gestürzt wurde!“
Auch in der Neustadt kommentierten Araber begeistert die Neuigkeiten. „Jedes Unrechtsregime kommt einmal zu Ende“, erklärt ein Händler fröhlich. Und während er der arabischen Radiosendung lauscht, ruft er frohlockend: „Nun bricht eine neue Zeit an.“
Zumindest über Letzteres scheint er sich mit dem israelischen Premierminister einig zu sein. Den Machtwechsel bezeichnete Benjamin Netanjahu (Likud) als „historischen Tag für den Nahen Osten“, der „große Chancen, aber auch erhebliche Gefahren“ berge. Er betonte, Israel strebe „nachbarschaftliche und friedliche Beziehungen mit den neuen Kräften in Syrien“ an.
Während westliche Medien noch spekulierten, wohin sich der alte Machthaber Al-Assad abgesetzt hatte, waren sich die Araber in der Altstadt einig: „Natürlich ist er bei seinem Freund Putin in Russland. Das ist das einzige, was der noch für ihn tun kann.“ Tatsächlich meldeten russische Staatsmedien dann, dass Moskau Al-Assad und seiner Familie Asyl gewährt hat.
Für den russischen Präsidenten Waldimir Putin stellt der Sturz von Al-Assad einen großen Rückschlag dar. Er hatte Al-Assad seit 2015 im Bürgerkrieg massiv unterstützt und so das Regime am Leben erhalten. Russland setzt außerdem auf den Marinestützpunkt Tartus als Machtfaktor in der Region.
Zuflucht in Russland
Bereits Ende November hatten die Dschihadisten den Umstand genutzt, dass die Verbündeten Al-Assads, allen voran Russland und Iran, mit eigenen Herausforderungen zu kämpfen hatten: Russland führt seinen Krieg gegen die Ukraine, der Iran ist durch den Krieg gegen Israel stark geschwächt. Syrien diente dank der Verbindung zu Al-Assad bislang als Landweg zur Unterstützung der Terrormiliz Hisbollah.
Doch laut Medienberichten zog die Hisbollah bereits am Samstag alle ihre Kräfte aus Syrien ab. Ende vergangener Woche hatte ihr Anführer Naim Qassem noch Unterstützung für das Regime bekundet.
In Damaskus legten dann selbst Al-Assads eigene Soldaten am Sonntag ihre Uniformen ab und schlossen sich den Dschihadisten oder Zivilisten an. Die Taktik der Islamisten war aufgegangen und der Weg in den Präsidentenpalast von Damaskus frei. Freudig teilten sie in den sozialen Medien Videos, in denen sie den großräumig untertunnelten Palast übernahmen.
Al-Assads Familie hatte sich bereits in den vergangenen Tagen nach Russland und in die Vereinigten Arabischen Emirate abgesetzt. Am Sonntagmorgen bestieg auch der einstige Machthaber selbst einen Flieger in Richtung Russland. Gerüchte, nach denen das Flugzeug abstürzte, bestätigten sich nicht.
Zwischen 1970 und 2000 hatte Hafis al-Assad Syrien als Diktator regiert. Nach seinem Tod im Jahr 2000 übernahm sein Sohn Baschar die Führung. Um den Verkehrsunfall des Sohnes Basil 1994 rankten sich zahlreiche Legenden. Im Syrien vor dem 2011 beginnenden Bürgerkrieg waren Poster, Plakate, Büsten und Statuen von Hafis, Baschar und Basil allgegenwärtig. Als Angehörige der Religionsgemeinschaft der Alawiten stellte die Familie eine Minderheit im mehrheitlich sunnitisch geprägten Syrien dar. Dadurch fühlten sich auch andere Minderheiten, wie etwa die Christen, relativ geschützt.
Vorsicht an der Grenze und eine dezente Hoffnung
So euphorisch die Stimmen zum Machtwechsel auch klingen – die israelische Armee ist in hoher Alarmbereitschaft. Nachdem saudische Nachrichten am Sonntag berichtet hatten, dass sich die syrische Armee sich zurückgezogen hat, übernahmen die Israelis die Kontrolle über die syrische Seite des Hermonbergs, um zu verhindern, dass die Dschihadisten das Gebiet einnehmen.
Die israelischen Golanhöhen erklärte die Armee zur militärischen Sperrzone. Nach dem Jom-Kippur-Krieg hatte die internationale Gemeinschaft dort eine Pufferzone eingerichtet, die von der Beobachtermission der Vereinten Nationen, den UNDOF-Soldaten, überwacht wurde.
Diese Regelung ist aus israelischer Sicht nun vorerst außer Kraft. Regierungschef Benjamin Netanjahu sagte: „Das Abkommen ist zusammengebrochen. Feindlichen Kräften werden wir nicht erlauben, sich an unserer Grenze festzusetzen.“ Bis eine geeignete Regelung für dieses Gebiet gefunden sei, sei das eine legitime und „vorübergehende Verteidigungsmaßnahme“, erklärte Netanjahu weiter.
Israels Luftwaffe griff außerdem Waffenlager in Syrien an. Sie sprach von intensiven Schlägen. Ziel sei es, dass die Waffen nicht in die Hände der Islamisten geraten. Laut Medienberichten gehörte dazu auch ein Lager für chemische Waffen.
Oppositionsführer Jair Lapid (Jesch Atid) erklärte seine Unterstützung zur Ausweitung der Sicherheitszone und fügte hinzu, Israel solle „unnötige Erklärungen vermeiden, die die neue syrische Regierung auf einen feindlichen Kurs drängen könnten“. Benny Gantz (Staatslager) sagte, Israel müsse „über die syrische Arena hinausblicken. Der Iran sei ein wackeliger Pfeiler, die Hisbollah schwer getroffen, und ihr Einfluss in Syrien und im Libanon geschwächt.“ Er sprach sich dafür aus, die Abraham-Abkommen zu erweitern, um eine Barriere gegen den Iran zu schaffen.
Die neuen Machthaber in Syrien geben sich indes weiter siegessicher und richten ihren Blick auf Jerusalem und darüber hinaus. In einem Video aus der Umajjaden-Moschee in Damaskus kündigten sie an: „Von hier kommen wir, o Jerusalem. Seid geduldig, o Menschen in Gaza.“ Weiter erklärten sie: So, wie sie die Umajjaden-Moschee eingenommen hätten, würden sie die Al-Aqsa-Moschee in Jerusalem einnehmen und bis zur Kaaba in Medina, dem wichtigsten Heiligtum des Islam, vordringen. (mh/df)