07.11.2024

Ukraine: Etwa 300 Ermittlungs- bzw. Strafverfahren gegen Wehrdienstverweigerer aus Gewissensgründen

AKREF-A/07.11.24 - Seit dem Sommer 2024 hat die Zahl der Anklagen nach Artikel 336 des ukrainischen Strafgesetzbuchs sprunghaft zugenommen, nachdem die Generalstaatsanwaltschaft ein Schreiben an die lokalen Staatsanwälte gerichtet hatte, in dem diese anscheinend aufgefordert wurden, Freisprüche von Wehrdienstverweigerern aus Gewissensgründen durch lokale Gerichte zu bekämpfen.

Derzeit sind strafrechtliche Ermittlungen gegen etwa 300 Wehrdienstverweigerer aus Gewissensgründen im Gange, die, sollten sie zu Gerichtsverfahren führen, die mit einem Schuldspruch enden, Freiheitsstrafen von 3 bis 5 Jahren nach sich ziehen könnten.

Bisher (Stand Ende Oktober 2024) kamen 89 Fälle, die 86 Personen betreffen, vor Gericht. Neun Angeklagte wurden zu unbedingten, elf zu bedingten Freiheitsstrafen verurteilt. Einer dieser Wehrdienstverweigerer befindet sich bereits im Gefängnis. Die Verfahren gegen die verbleibenden 66 Personen sind noch nicht abgeschlossen.

Nach der russischen Invasion im Februar 2022 rief die Ukraine das Kriegsrecht aus. Seit diesem Zeitpunkt können alle zwischen 18 und 60 alten Männer im Rahmen einer Generalmobilmachung einberufen werden und dürfen auch das Land nicht verlassen. Das ukrainische Verteidigungsministerium besteht darauf, dass selbst der in Friedenszeiten erlaubte, Einschränkungen unterliegende Wehrersatzdienst in Kriegszeiten nicht existiert.

Wehrdienstverweigerer aus Gewissensgründen können gemäß Artikel 336 des Strafgesetzbuchs (Verweigerung der Einberufung zum Militärdienst bei Mobilmachung oder in einer speziellen Periode und zum Militärdienst anlässlich der Einberufung von Reservisten in einer speziellen Periode“) strafrechtlich verfolgt werden. Im Falle eines Schuldspruchs droht eine Freiheitsstrafe von drei bis fünf Jahren.

Das Büro des Parlamentarischen Menschenrechtskommissars (Ombudsmannes) Dmytro Lubinets antwortete nicht auf die Anfrage von Forum 18, welche Maßnahmen man im Fall der strafrechtlichen Verurteilung von Personen setzt, die während der Geltung des Kriegsrechts nicht im Militär dienen können und was man unternimmt, damit die Ukraine ein neues Gesetz oder eine Gesetzesnovelle versabschiedet, damit Wehrdienstverweigerer aus Gewissensgründen nicht nur in Friedenszeiten sondern auch in Kriegszeiten zivilen Wehrersatzdienst leisten können.

Drei Fälle der Verweigerung des Rechts auf Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen werden vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg angefochten, darunter die Abweisung der Berufung des Adventisten Dmytro Zelinsky gegen seine Verurteilung und Haft durch den Obersten Gerichtshof in Kiew als letzte innerstaatliche Instanz.

Am 10. Oktober sind Beamte des Verteidigungsministeriums, der Staatlichen Behörde für Volksgruppenpolitik und Gewissensfreiheit („DESS“) und anderer staatlicher Stellen hinter verschlossenen Türen zusammengetreten, um über das strittige Thema des zivilen Wehrersatzdienstes in Kriegszeiten zu beraten. „Es war eine ernsthafte Diskussion und das Verteidigungsministerium hat eingeräumt, dass diese Frage viele Menschen betrifft“, erklärte eine mit der Materie vertraute Person gegenüber Forum 18. Forum 18 fragte bei Viktor Yelensky, dem Leiter der Behörde DESS nach, welche Fortschritte bei der Besprechung vom 10. Oktober und auch sonst in Richtung der Einführung eines zivilen Wehrersatzdienstes erzielt wurden, der zu allen Zeiten zur Verfügung steht. „Ich bin derzeit extrem beschäftigt mit dieser Angelegenheit, trotz enormen Drucks anderer Verantwortlichkeiten“, erklärte er gegenüber Forum 18. „Derzeit kann ich über keinen Fortschritt berichten“.

Die Mehrheit der Wehrdienstverweigerer aus Gewissensgründen sind Zeugen Jehovas. Die übrigen sind Christen verschiedener Konfessionen, darunter Siebenten-Tags Adventisten, Baptisten und Mitglieder von Pfingstgemeinden, sowie auch nicht religiöse Pazifisten.

Auch gegen Leiter christlicher Gemeinden sind Ermittlungen gemäß Artikel 336 des Strafgesetzbuchs im Gange, darunter Pastor Yuriy Harkusha von der Baptistengemeinde Christus Erlöser in Cherson, und Mykhailo Savochka, Pastor der Pfingstgemeinde Erlösung in Vasylkiv in der Region Kiew.

 

Viele Wehrdienstverweigerer haben ihre Bereitschaft bekundet, zivilen Wehrersatzdienst zu leisten, so etwa beim Roten Kreuz (http://redcroiss.org.ua), das dringend Freiwillige sucht.

Auch die Zeugen Jehovas betonen, dass ihre Männer zur Leistung von Wehrersatzdienst bereit sind und weisen darauf hin, dass sich Zeugen Jehovas in Russland, wo die Gemeinschaft als „extremistisch“ verboten ist, aus Gewissensgründen nicht am Krieg gegen die Ukraine beteiligen. Sie erklärten, dass mindestens 500 Zeugen Jehovas auf dem gesamten Staatsgebiet der Ukraine freiwillig Sozialdienste für die Gemeinschaft geleistet haben bzw. leisten, sei es auf eigene Initiative oder auf Aufforderung durch Gemeindebehörden, darunter die Lieferung von Hilfsgütern, Aufbau von Notquartieren auf öffentlichen Grundstücken, Renovierung beschädigter Häuser und Wohnungen und ähnliche Arbeiten.

Militärangehörige und Angestellte in Rekrutierungsbüros und Militäreinheiten üben Druck auf Männer, darunter Wehrdienstverweigerer aus Gewissensgründen, aus, um sie zum Wehrdienst zu zwingen. Es kommt zu willkürlichen Verhaftungen, wobei die Männer in manchen Fällen einige Monate festgehalten werden, Essensentzug und Schlägen. Den Männern werden Haftstrafen oder nicht näher genannte Konsequenzen angedroht.

Quelle: Forum 18, Oslo (Bericht vom 1. November 2024)

Deutsche Fassung: Arbeitskreis Religionsfreiheit der ÖEA