27.11.2024

Deutschland: Der „Fall Latzel“ und die Meinungsfreiheit

Eine Einordnung zum Stand und zu den Folgen des Verfahrens von IDEA-Redaktionsleiter David Wengenroth

(IDEA) Der Fall der Politikerin Päivi Räsänen und des Bischofs Juhana Pohjola aus Finnland beschäftigt auch Christen in Deutschland. Um die Reichweite ihrer Meinungsfreiheit ging es hierzulande zuletzt im Fall des Bremer Pastors Olaf Latzel.

Der „Fall Latzel“ zieht sich. Der Strafprozess gegen den Pastor der Bremer St.-Martini-Gemeinde, Olaf Latzel, wegen Volksverhetzung ist eingestellt. Aber das Disziplinarverfahren der Bremischen Evangelischen Kirche (BEK) läuft weiter. Der Ball liegt also jetzt im Feld der Kirche – und das ist ihr sichtlich unangenehm. Kein Wunder: Nach der Einstellung des Strafprozesses vor dem Landgericht Bremen demonstrierten queere Aktivisten vor dem Landeskirchenamt und forderten Latzels Rauswurf. Lokalpresse und LGBTQ-Lobbyisten stimmten in den Ruf ein. Diese Sorte öffentlicher Aufmerksamkeit mögen evangelische Kirchenleitungen am wenigsten.

Die BEK ließ erklären, bis zu einer Entscheidung im Disziplinarverfahren werde es lange dauern. Der Grund dafür ist wohl nicht der verständliche Versuch, auf Zeit zu spielen, sondern die knifflige kirchenrechtliche Konstellation. Hintergrund: Wenn Latzel im Strafprozess verurteilt oder freigesprochen worden wäre, hätte die Kirchenleitung es mit ihrer Entscheidung relativ einfach gehabt. Dann wäre sie an die Feststellungen des staatlichen Gerichts gebunden gewesen. Bei einer Verurteilung hätte es wahrscheinlich einen Rauswurf gegeben – bei einem Freispruch eine (zähneknirschende) Einstellung des Disziplinarverfahrens, allenfalls garniert mit einer folgenlosen Rüge.

Kirchenleitung in der Zwickmühle

Bei einer Einstellung des Strafprozesses wie im „Fall Latzel“ gibt es aber keine solche Bindungswirkung. Und da in der bundesdeutschen Kirchengeschichte noch nie etwas Vergleichbares vorgekommen ist, gibt es auch keinen Präzedenzfall, an dem sich die Kirchenleitung orientieren könnte. Sie muss ihre Entscheidung selbst austüfteln und dabei sehr verschiedene Faktoren berücksichtigen. Da geht es nicht nur um die streitauslösenden Äußerungen in dem Eheseminar und ihren Kontext. Die Kirchenleitung muss nach den Regeln des Disziplinarverfahrens zum Beispiel auch den Zeitablauf und Latzels Verhalten seitdem berücksichtigen: Der Vorfall ist mittlerweile stolze fünf Jahre her, Latzel hat sich mehrfach entschuldigt und nichts mehr zuschulden kommen lassen. Außerdem könnte man zu dem Schluss kommen, das lange Strafverfahren sei allein schon Strafe genug gewesen.

Mit anderen Worten: Das Disziplinarverfahren könnte mit einer Entscheidung enden, die Bremens quirliger queerer Szene nicht gefallen wird. Dass Latzels Kritiker schon jetzt nicht verstehen, warum das mit dem vermeintlich unausweichlichen Rauswurf so lange dauert, hat die BEK sich nicht zuletzt selbst zuzuschreiben. In der Vergangenheit haben ihre Vertreter oft genug Öl ins Feuer gegossen. Mit markigen Distanzierungen leisteten sie einen wesentlichen Beitrag zur Entstehung des medialen Zerrbildes vom „homophoben Hetzprediger“, das mit der realen Person Olaf Latzel nichts mehr zu tun hat. Jetzt wäre die Kirche gut beraten, der Öffentlichkeit die Wahrheit zu sagen: Der Martini-Pastor ist kein Monster im Talar, sondern ein gewöhnlicher konservativer Theologe. Seine Ansicht, dass die Bibel praktizierte Homosexualität ablehnt, ist keine menschenfeindliche Spezialmeinung, sondern die geltende Lehre einer großen Mehrheit der Kirchen weltweit.

Es bleibt ein Restrisiko

Aber auch wenn die Chancen gut stehen, dass das kirchliche Disziplinarverfahren für Latzel glimpflich endet, bleibt ein Restrisiko. Das dürfte er einkalkuliert haben, als er die Einstellung des Strafprozesses vorschlug, statt weiter für einen Freispruch zu kämpfen. Auf den ersten Blick war dieser Schritt für ihn der sprichwörtliche Spatz in der Hand: Er beendete nach fast vier Jahren das juristische Gezerre, und die Geldauflage von 5.000 Euro machte ihn nicht arm. Im Falle einer Verurteilung hätte die Justiz von ihm die aufgelaufenen Gerichtskosten im hohen fünfstelligen Bereich eingetrieben. Doch einen drohenden Großschaden hat Latzel nicht nur von sich selbst, sondern auch von der Meinungsfreiheit abgewendet. Um das zu erklären, muss man ein wenig ausholen: Nach der bisherigen Rechtsprechung war es von Anfang an abwegig, Latzels Aussagen in dem Eheseminar als Volksverhetzung einzuordnen. Wegen der großen Bedeutung der Meinungsfreiheit und der Religionsfreiheit waren die Hürden für eine Verurteilung eigentlich zu hoch. Der schlampig begründete Schuldspruch des Amtsgerichts Bremen schien zunächst nur der Ausrutscher einer überforderten Einzelrichterin zu sein. Er wurde vom Landgericht ja auch folgerichtig aufgehoben. Als aber dann das Oberlandesgericht Bremen in der Revisionsverhandlung wiederum den Freispruch des Landgerichts kassierte, mussten bei Latzels erfahrenen Verteidigern die Warnsirenen schrillen.

 

Schaden für die Meinungsfreiheit

Der Grund: Die Grundsätze der Rechtsprechung sind nicht in Stein gemeißelt. Gerade zurzeit gibt es in der Justiz eine starke Tendenz zulasten der Meinungsfreiheit. Staatsanwaltschaften und Gerichte gehen öfter und rigoroser gegen eigentlich harmlose Meinungsäußerungen vor, die sie vor wenigen Jahren mit einem Schulterzucken abgetan hätten. Ein typischer Fall geht gerade durch die Medien: In der Nähe von Bamberg rückte die Polizei mit einem Durchsuchungsbeschluss bei einem Mann an, weil er eine satirisch verfremdete Schwarzkopf-Werbung mit einem Bild von Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck und der Unterschrift „Schwachkopf Professional“ geteilt hatte. Auch wenn es in diesem Fall nicht um angebliche Volksverhetzung, sondern vermeintliche Beleidigung geht, ist er exemplarisch: Meinungsfreiheit steht bei deutschen Gerichten aktuell nicht hoch im Kurs.

Drohender Präzedenzfall

Vor diesem Hintergrund war das Revisionsurteil des Oberlandesgerichts im „Fall Latzel“ brisant. Die Bremer Richter verwiesen den Fall mit einer konstruierten Begründung zurück an das Landgericht – und ließen unverhohlen durchblicken, dass sie eine Verurteilung begrüßen würden. In dem erneuten Berufungsprozess war die Gefahr eines Schuldspruchs also groß. Der wäre in einer erneuten Revision bestätigt worden – und Urteile von Oberlandesgerichten haben für die Entwicklung der Rechtsprechung erhebliches Gewicht. Mit anderen Worten: Das Verfahren drohte zu einem Präzedenzfall mit unabsehbaren Folgen zu werden. Staatsanwälte und Amtsrichter in ganz Deutschland hätten es bald in den gängigen Kommentaren zum Strafgesetzbuch nachlesen können: Eine theologisch konservative Sicht auf Homosexualität kann den Tatbestand der Volksverhetzung erfüllen.

Dann wären auch in Deutschland Prozesse möglich geworden, wie ihn die frühere finnische Innenministerin Päivi Räsänen und Bischof Juhana Pohjola derzeit erleben. Dort argumentiert die Staatsanwaltschaft ganz offen, dass es den Tatbestand der „Hassrede“ erfüllt, ein bestimmtes sexuelles Verhalten als Sünde zu bezeichnen. Wenn sich diese Rechtsansicht auch in Deutschland durchsetzen würde, stünden viele evangelikale Theologen, Prediger und Autoren ständig mit einem Bein im Gerichtssaal. Kurz: Durch seine Zustimmung zur Einstellung des Strafprozesses hat Latzel auch der Meinungsfreiheit einen Dienst erwiesen.

Respektvoll Meinung äußern

Nach der letzten Verhandlung vor dem Bremer Landgericht wies Latzels Verteidiger Sascha Böttner darauf hin, dass Christen in unserem Land durchaus die Freiheit haben, auch unbequeme Meinungen auszusprechen. Entscheidend sei die „Darreichungsform“. Bisher sind der „Fall Latzel“ und der „Fall Räsänen und Pohjola“ noch Einzelfälle. Wenn wir Christen das, was wir zu sagen haben, liebevoll und mit Respekt für alle Mitmenschen sagen, leisten wir einen Beitrag dazu, dass das so bleibt.