01.09.2024

Ukraine: Russland verschleppt und foltert Zivilisten

Nach Angaben des ukrainischen Menschenrechtsbeauftragten Dmytro Lubinets gelten aktuell 14.000 Zivilisten als von der russischen Armee entführt. Die Vereinten Nationen (UN) berichten von schwerer Folter und furchtbaren Haftbedingungen. Am 30. August gedachte sie der Verschwundenen weltweit. IDEA-Redakteurin Erika Gitt hat mit einer Mitarbeiterin in der Osteuropa-Abteilung der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM), Valeriia Liamzienko, über das Schicksal der ukrainischen Verschleppten gesprochen.

(IDEA) – Seit mehr als zwei Jahren lebt Olena Tsyhipa im Ausnahmezustand. Anstatt morgens mit ihrem Mann gemütlich zu frühstücken, beginnt sie den Tag allein – mit einem Gebet für seine Freilassung. Ihr Mann, der 63-jährige Journalist Sergiy Tsyhipa, wurde am 12. März 2022 an einem Kontrollpunkt in der südukrainischen Region Cherson verhaftet. Das zuständige sogenannte „Oberste Gericht“ der nur rund 100 Kilometer entfernten Krim verurteilte ihn wegen Spionage zu 13 Jahren Strafkolonie. Er soll sich in der Strafkolonie Nr. 3 im zentralrussischen Skopin befinden. Olena brauchte anfangs starke Beruhigungsmittel und psychologische Hilfe. Eine Therapie gab ihr schließlich neue Kraft im Kampf für ihren Mann.

Folter und Vergewaltigung

60 Fälle wie den von Sergiy Tsyhipa nennt die IGFM auf ihrer Internetseite. Laut IGFM-Mitarbeiterin Liamzienko kommen entführte Ukrainer in der Regel nach ihrer Entführung in inoffizielle Haftanstalten. Dort herrschten schreckliche Bedingungen, die die Insassen bis zu sechs Monate ertragen müssen. Danach kämen die überwiegend männlichen Zivilisten in Untersuchungsgefängnisse oder Strafkolonien in Russland. Bis zu 20 Personen teilten sich eine Vier-Mann-Zelle. Nach UN-Angaben erleben 90 Prozent der Verschleppten Folter durch Schläge oder Elektroschocker. Doch auch von Vergewaltigung oder deren Androhung sowie Verstümmelungen und Scheinhinrichtungen ist die Rede. Die Verpflegung sei schlecht, und es gebe keine medizinische Versorgung, so Liamzienko. Für den herzkranken und an einer Prostatitis leidenden Tsyhipa sei das eine Katastrophe.

Zivilisten im Austausch für Soldaten

Für Liamzienko steckt hinter der Verschleppung ukrainischer Zivilisten Kalkül: Zum einen erhoffe sich das russische Militär wertvolle Informationen durch Verhöre, zum anderen würden so Personen für ihre deutliche pro-ukrainische Haltung und die Weigerung bestraft, Russland als Autorität anzuerkennen. „Nicht zuletzt entführen die Russen ukrainische Zivilisten auch, um ihren Austauschfonds aufzufüllen“, fügt die aus Luhansk stammende Ukraine-Expertin hinzu. Die Russen stuften entführte Zivilisten als „Kriegsgefangene“ ein und füllten damit ihre Listen für den Gefangenenaustausch. Nach internationalem Völkerrecht müssten Zivilisten eigentlich ohne Gegenleistung freigelassen werden, so Liamzienko. Die russische Seite wolle so Verhandlungen über den Gefangenenaustausch zu ihren Gunsten gestalten, um möglichst viel wertvolles militärisches Personal zurückzubekommen, ohne selbst in gleichem Maße Armeeangehörige an die Ukraine übergeben zu müssen. Liamzienko ermutigt dazu, sich für verschleppte ukrainische Zivilisten einzusetzen: „Je stärker der Druck der deutschen Gesellschaft auf die russischen Behörden ist, desto größer sind die Chancen, dass die Gefangenen überleben.“ Dafür beten auch Olena Tsyhipa und die 83-jährige Mutter des verschleppten Sergiy.