28.04.2025

Deutschland: „Zeitfenster für jüdisches Leben in Deutschland wird sich schließen“

Antisemitismusbeauftragter Becker in Wetzlar

Der hessische Antisemitismusbeauftragte Becker schildert bei einer Veranstaltung der Evangelischen Allianz die Notlage der Juden in Deutschland. Ein Schüler stellt ein Projekt zur Schoa vor.

(Von Israelnetz vom 28. April 2025) WETZLAR (inn) – Der Jom HaSchoa vereint die Israelis in einer bewegenden Schweigeminute, um der im Holocaust ermordeten Juden zu gedenken. Der Tag mahnt auch, den Kampf gegen Antisemitismus und Hass in der Gegenwart fortzusetzen. Wie sehr das auch in Deutschland notwendig ist, verdeutlichte Uwe Becker, Staatssekretär und Beauftragter der Hessischen Landesregierung für Jüdisches Leben und den Kampf gegen Antisemitismus, zum Abschluss dieses Tages bei einer Veranstaltung der Evangelischen Allianz im mittelhessischen Wetzlar. Rund 250 Interessierte kamen am Donnerstagabend in die Freie evangelische Gemeinde.

„Das Zeitfenster für jüdisches Leben in Deutschland wird sich schließen, wenn wir uns nicht aktiver gegen Antisemitismus einsetzen“, fand Becker deutliche Worte, „es ist nicht fünf vor zwölf, es ist bereits zehn nach zwölf!“

Nicht wegsehen, sondern hinschauen und sich einmischen

Seit dem Terrorakt der Hamas am 7. Oktober 2023 habe sich die Zahl gemeldeter Straftaten gegen jüdische Bürger mehr als verdoppelt. „Jüdisches Leben in Deutschland ist von rechter, linker wie auch von islamistischer Seite so bedroht wie noch nie seit der Schoa“, betonte Becker. Er forderte dazu auf, nicht wegzusehen, sondern hinzuschauen und sich einzumischen, wenn in Gesprächen stereotypische Aussagen geäußert werden, wie beispielsweise, dass Juden zu viel Einfluss weltweit hätten.

„Wir dürfen uns nicht an Unsagbares gewöhnen, das schürt die Angst von Juden im Alltag“, sagte Becker und verwies darauf, dass 70 Prozent der jüdischen Mitbürger es vermeiden würden, Symbole wie den Davidstern in der Öffentlichkeit zu tragen.

Becker: „Lernen Sie Juden kennen!“

Im Beisein von Wetzlars Oberbürgermeister Manfred Wagner (SPD) und dem Landtagsabgeordneten Frank Steinraths (CDU) forderte Becker dazu auf, den Kontakt zu Juden in Deutschland zu suchen, Synagogen zu besuchen und sich bewusst zu machen, dass es seit 1.700 Jahren jüdisches Leben in Deutschland gibt. „Ich appelliere an Ihre Neugier, gehen Sie den ersten Schritt und lernen Sie Juden kennen“, betonte Becker.

Auch die Diskussion über die israelische Politik sollte selbstverständlich sein, wobei es einen entscheidenden Unterschied gebe: „Ich erlebe es häufig, dass es im politischen Diskurs unterschwellig immer auch um die Existenz des Staates Israel geht. Wenn Sie über Trump reden, reden Sie auch nicht über die USA – warum ist das nur bei Israel der Fall?“

Einen Unterschied machen

An der sich anschließenden Diskussionsrunde beteiligte sich der 18-jährige Schüler Luke Schaaf aus Grünberg. Er schreibt ein Buch über die Holocaust-Überlebende Ruth Wertheim: „Wer sich intensiv mit der Lebensgeschichte einer Person beschäftigt, kann viel eher nachvollziehen, was in der NS-Zeit passiert ist, als wenn er über die Zahl ‚6 Millionen‘ nachdenkt.“

Es gehe darum, einen Unterschied zu machen und aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen: „Damit Hass und Hetze in unserem Land keine Chance haben.“

Nicht aus der Angst heraus leben

Lawrence de Donges-Amiss-Amiss, Vorstand der Jüdischen Gemeinde Gießen, erinnerte sich an seine erste Reaktion auf das Massaker an 1.200 Juden in Israel vor anderthalb Jahren: „Ich dachte sofort, jetzt erst recht! Wir dürfen nicht aus der Angst heraus leben.“

So organisierte das Mitglied der „European Jewish Association“ zahlreiche Führungen und Angebote zur Begegnung von Juden und Nicht-Juden in Mittelhessen. Gerade im Austausch liege ein großes Potential zur Verständigung. Hier seien auch Christen gefordert, sagte de Donges-Amiss-Amiss.

Yossi Herzka, Student und Mitglied der Jüdischen Gemeinde Gießen, nimmt eine deutliche Bereitschaft in Deutschland wahr, sich mit dem wachsenden Antisemitismus nach dem Holocaust auseinanderzusetzen. Nach dem 7. Oktober habe die Diskussion an Schärfe zugenommen: „Ich überlege mir gut, wem ich in meinem Umfeld von meiner jüdischen Identität erzähle und wem nicht.“ Moderiert wurde der Abend von Ingo Marx, Journalist und Leiter von ERF Jess.

Von Bernhard Limberg