27.03.2025
Ukraine: Strafverfolgung von Wehrdienstverweigerern aus Gewissensgründen wegen „Ungehorsams“
AKREF-A/27.03.25 - Ende Januar wurde der Baptist Serhy Mikhaylovych Semchuk an seinem Arbeitsplatz festgenommen und ins Gefängnis gebracht, um seine fünfjährige Haftstrafe anzutreten. Nach Ablehnung seines Antrags auf zivilen Wehrersatzdienst war Semchuk im Dezember 2022 zum Militärdienst einberufen worden. Er erklärte sich bereit, im Militär zu dienen, allerdings entsprechend seiner Glaubensüberzeugung ohne Waffen. Von der Rekrutierungsstelle wurde ihm zugesichert, dass das akzeptiert würde. Dann wurde er einer Militäreinheit zugeteilt. Im Dezember 2023 befahl der Kommandant Semchuk und anderen Soldaten, sich mit Maschinengewehren zu bewaffnen. Semchuk weigerte sich und sagte dem Kommandanten, dass es ihm sein Glaube verbiete, zu den Waffen zu greifen. Daraufhin wurde er im Januar 2024 verhaftet und nach drei Tagen in Haft bis zum Prozess auf Kaution entlassen. Am 8. Mai 2024 wurde er von Richterin Tetyana Shtikh von einem Gericht in Charkiw nach Artikel 402, Teil 4 des Strafgesetzbuchs für schuldig befunden („Ungehorsam bei Kriegsrecht oder in einer Kampfsituation“) und zu 5 Jahren Haft verurteilt. Semchuk erklärte vor Gericht, dass er seit 2012 Mitglied der Baptistengemeinde seines Heimatortes Brody wäre und wies dies durch eine Bestätigung des Pastors nach. „Die Glaubensüberzeugungen der genannten Kirche verbieten den Einsatz von Waffen gegen Menschen, was er anlässlich der Vorbereitung zur Mobilmachung dem Militärkommissar mitteilte“ heißt es in der schriftlichen Ausfertigung des Urteils. Semchuks Verteidiger Ruslan Pronin erklärte am 18. Februar 2025 gegenüber Forum 18: „Serhy Semchuk hat seine Ansichten, weshalb er keine Waffen ergreifen kann, vor Gericht vollständig dargelegt. Er ist bereit, alle Befehle auszuführen, ausgenommen Befehle im Zusammenhang mit Waffen.“ Derzeit (Stand März 2025) befindet sich Serhy Semchuk im Gefängnis in Lwiw, wo auch mindestens ein weiterer Wehrdienstverweigerer aus Gewissensgründen, ein Mitglied einer Pfingstgemeinde, festgehalten wird. Ein Mitglied der Baptistengemeinde von Brody erklärte gegenüber Forum 18: „Wir sind so schockiert, dass das geschehen ist. Er möchte nicht töten. Wir unterstützen das und das ist die Position unserer Gemeinde – wir haben diese Lehre.“
Semchuk war zum Zeitpunkt seines „Ungehorsams“ bereits beim Militär. Doch einer kleinen, aber steigenden Zahl von Personen, die aus Gewissensgründen die Mobilisierung verweigern und noch nicht beim Militär sind, droht eine Anklage nach Artikel 402, Teil 4 des Strafgesetzbuchs, obwohl sich dieser Artikel gegen Militärangehörige richtet. Seit Herbst 2024 berufen sich Ermittler und Staatsanwälte vermehrt auf diese Strafbestimmung. „Artikel 402 ist zu einer Taktik gegen Wehrdienstverweigerer aus Gewissensgründen geworden, um verstärkten Druck auf sie auszuüben, dass sie nachgeben, ihre Überzeugungen aufgeben und den Militärdienst akzeptieren“, erklärten Zeugen Jehovas gegenüber Forum 18. Bei einer Strafandrohung von 5 bis 10 Jahren Haft ist dies ein starkes Druckmittel. Ein Betroffener ist Volodymyr Baranov, der ebenso wie weitere 5 Zeugen Jehovas nach Artikel 402 verfolgt wird, obwohl er kein Militärangehöriger ist. Gegen weitere 7 Zeugen Jehovas werden von den Ermittlern Strafverfahren vorbereitet. Im Februar und März 2025 wurden vier wegen Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen verurteilte Zeugen Jehovas ins Gefängnis gebracht, um ihre Haftstrafen von jeweils 3 Jahren zu verbüßen.
Der vom Bezirksgericht Komintern in Odessa wegen Wehrdienstverweigerung zu drei Jahren Haft verurteilte Baptist Oleksy Vasilovich Roznyak hat gegen das Urteil Berufung eingelegt. Die Verhandlung vor dem Berufungsgericht Odessa soll am 7. April stattfinden. Valentyn Adamchuk, Mitglied einer Pfingstgemeinde, wurde ebenfalls wegen seiner Verweigerung des Wehrdiensts zu 3 Jahren Haft verurteilt, obwohl ihm das Büro des parlamentarischen Menschenrechtskommissars der Ukraine auf seinen Antrag zugesichert hatte, dass die Verfassung der Ukraine und internationale Abkommen vorrangig vor nationalem Recht gelten und daher das Recht auf Wehrersatzdienst und Befreiung vom Wehrdienst ein absolutes Recht ist und auch trotz Geltung des Kriegsrechts nicht eingeschränkt werden kann. Am 29. Januar wurde das Urteil gegen Adamchuk gefällt. Am 7. Februar erklärte er gegenüber Forum 18: „Das Evangelium verbietet uns das Töten und fordert uns auf, uns um andere zu kümmern. Militärdienst zu leisten stimmt nicht mit dem Evangelium und den Worten Christi überein.“ Auch er hat gegen das Urteil Berufung eingelegt.
Die meisten Personen, die aus Gewissensgründen die Einberufung ablehnen, werden nach Art. 336 angeklagt („Verweigerung der Einberufung zum Militärdienst bei Mobilmachung bzw. Einberufung von Reservisten in einer besonderen Zeit“). Die Strafandrohung beträgt in diesem Fall 3 bis 5 Jahre Haft. Verfahren gegen geschätzt 200 Wehrdienstverweigerer aus Gewissensgründen nach Artikel 336 sind bereits vor Gericht anhängig. In 171 dieser Fälle sind die Angeklagten Zeugen Jehovas, wie Vertreter der Gemeinschaft gegenüber Forum 18 berichten. Die übrigen sind Baptisten (aus registrierten und nicht registrierten Gemeinden), Mitglieder von Pfingstgemeinden und Siebenten-Tags-Adventisten. Gegen weitere 600 Wehrdienstverweigerer, die aus Gewissensgründen einen Antrag auf zivilen Wehrersatzdienst gestellt haben, wurden Ermittlungsverfahren eingeleitet.
Das Büro des UN-Hochkommissars für Menschenrechte stellte fest, dass die Verweigerung des Wehrdiensts aus Gewissensgründen gemäß Artikel 18 des internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte („Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit“) geschützt ist und anerkennt jedermanns Recht auf Verweigerung aus Gewissensgründen als legitime Ausübung des Rechts auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit. In seiner Publikation zum Thema hat das Büro des UN-Hochkommissars für Menschenrechte auch festgestellt, dass Artikel 18 ein unveräußerliches Recht gewährt, selbst in Zeiten eines nationalen Notstands, der das Leben der Nation bedroht. Auch Artikel 35 der ukrainischen Verfassung garantiert das Recht auf Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen. Das Verteidigungsministerium der Ukraine besteht hingegen darauf, dass in Kriegszeiten nicht einmal der in Friedenszeiten mit Einschränkungen erlaubte Wehrersatzdienst existiert.
Quelle: Forum 18, Oslo (Bericht vom 14. März 2025)
Deutsche Fassung: Arbeitskreis Religionsfreiheit der ÖEA