05.07.2008

Japan: Ein multireligiöses Land unter dem Einfluss fremder Mächte

Von Florian Coulmas

Japan: Ein multireligiöses Land unter dem Einfluss fremder Mächte

Von Florian Coulmas

In der Stadt Kagoshima im äussersten Westen Japans erinnert eine Statue an den Jesuiten Francisco de Xavier, der 1549 das Christentum nach Japan brachte. Damit begann hier die problematische Geschichte des Verhältnisses von Staat und Religion. Anfangs duldeten die Japaner die Umtriebe der Missionare im Interesse des profitablen Handels mit den Portugiesen, aber es wurde immer deutlicher, dass mit dem Kreuz Unfrieden ins Land kam. Franziskaner folgten den Jesuiten, beide rivalisierten miteinander und säten Zwietracht. Nachdem die Japaner gesehen hatten, dass den Missionaren in China nicht nur Händler, sondern auch Soldaten gefolgt waren, schickte die neu etablierte Regierung des Schoguns die Gottesmänner Anfang des siebzehnten Jahrhunderts nach Hause und verbot das Christentum. Die Dynastie der Tokugawa (1603–1867) errichtete einen gut funktionierenden Polizeistaat, der dem Land die nächsten zweieinhalb Jahrhunderte Frieden bescherte.

Ungleiche Verträge

Dann kamen die Christen zurück, diesmal die Protestanten. Amerikanische Kanonenboote zwangen die Japaner Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, ihre Häfen dem Handel mit Amerika und Europa zu öffnen. Ihre waffentechnische Überlegenheit erlaubte es den Eindringlingen, Japan einem Regime asymmetrischer Verträge zu unterwerfen, das die Souveränitätsrechte des Landes erheblich beschnitt. Das Hauptbestreben der japanischen Regierung war es fortan, sich von diesen Knebelverträgen zu befreien. Eine der kardinalen Bedingungen der imperialen Mächte hierfür war die Gewährung von Religionsfreiheit, sprich: die Wiederzulassung der christlichen Mission.

Die Anerkennung Japans als gleichberechtigte Nation brachte so eine Neudefinition des Verhältnisses von Religion und Politik mit sich. Jahrhundertelang hatten zwei grundsätzlich verschiedene Prinzipien religiöser Weltdeutung friedlich nebeneinander bestanden: der provinzielle mythisch-animistische Schintoismus und der vom Kontinent nach Japan gelangte universell-rationalistische Buddhismus. Die dritte tragende Säule des geistigen Lebens war die taoistisch-konfuzianische Tradition. Buddhismus und Schintoismus brachten symbiotische Formen hervor und liessen zahlreiche synkretistische Sekten neben sich bestehen, während der Staat konfuzianische Schulen förderte und seine Beamten aus ihnen rekrutierte. Keine dieser Kultformen schloss die andere aus.

Die Leitideologie des feudalistischen Tokugawa-Staats war der Neokonfuzianismus, aber buddhistische Denkschulen hatten grossen Einfluss, wie auch der quasireligiöse Verhaltenskodex der Samurai, «Bushido» oder «der Weg des Schwerts». Gegen Ende der Tokugawa-Zeit, in den frühen Jahrzehnten des neunzehnten Jahrhunderts, entstand eine nativistische Denkschule, die der klassischen japanischen Literatur und dem Schintoismus Auftrieb verlieh, während der Neokonfuzianismus an intellektueller Anziehungskraft verlor. Das normalerweise friedliche Neben- und Miteinander der verschiedenen Konfessionen, Kulte und Sekten blieb davon unberührt. Die Unduldsamkeit des Christentums war damit unvereinbar.

Durch das Beharren der imperialen Mächte auf Anerkennung der Freiheit ihrer Religion waren die Japaner genötigt, über eine Frage nachzudenken, die sie bis dahin nie beschäftigt hatte: Was ist eine Religion? Ihre Beantwortung wurde dadurch nicht erleichtert, dass Vertreter jener imperialen Mächte die Trennung von Kirche und Staat predigten, während alles, was die Japaner von deren Ländern wussten, darauf hindeutete, dass dort eine enge Beziehung zwischen beiden bestand. Der englische König war Oberhaupt der anglikanischen Kirche, gekrönte Häupter beanspruchten überall in Europa den Segen des christlichen Gottes, und die amerikanische Republik vertraute ihm noch viel mehr.

Staats-Schintoismus, Gott-Kaiser

Nach der Abdankung des Schoguns und der Wiederherstellung der kaiserlichen Macht 1868 schlug Japan einen Kurs rascher Modernisierung ein. Das schloss die Errichtung eines Nationalstaats nach westlichem Vorbild mit einem landesweiten öffentlichen Dienst, einem Parlament, Banken, Schulpflicht, Wehrpflicht, Post usw. ein. Auch der Ort der Religion in diesem Staat musste bestimmt werden. Um den imperialen Mächten zu willfahren, wurde das Verbot der christlichen Religion aufgehoben. Und um klare Verhältnisse für die Anerkennung von Kultgemeinschaften als Religionen zu schaffen, wurden Buddhismus und Schintoismus, deren Gotteshäuser bis dahin vielfach direkt nebeneinander auf demselben Grundstück lagen, voneinander getrennt. Buddhistischen Priestern wurde die Aufsicht über Schinto-Schreine entzogen, und Bildnisse buddhistischer Gottheiten mussten aus denselben entfernt werden. Im Zuge der gleichen administrativen Reform wurden dreizehn Kulte verschiedener Hintergründe und Orientierungen als schintoistische Sekten klassifiziert. Die Verfassung von 1889 garantierte neben anderen bürgerlichen Freiheiten auch die der Religion, die nach dieser Klassifizierung Buddhisten, Schinto-Sekten und Christen für sich in Anspruch nehmen konnten.

Gleichzeitig aber räumte die Verfassung dem Schintoismus eine Sonderrolle ein. Die mit der Modernisierung einhergehende Übernahme westlicher Institutionen und Ideologien barg die Gefahr der Verunsicherung und Desorientierung der Bevölkerung, worauf die Führer des neuen Staates reagierten, indem sie die Bedeutung des Hergebrachten bekräftigten. Der Staats-Schintoismus mit dem Kaiser als Abkömmling der Sonnengöttin an der Spitze sollte den modernen Staat in der Tradition verankern. Dadurch wurde eine die anerkannten Religionen übergreifende Struktur hergestellt, in der Staat und Kult miteinander verbunden waren – wobei dieser Kult explizit nicht als Religion bezeichnet wurde. Staats-Schinto und Sekten-Schinto waren nominell zweierlei. Das problematische Verhältnis von Religion und Staat vor und während des Zweiten Weltkriegs war dadurch vorgezeichnet.

Kaiserkult und ein ethnozentrisch inspirierter Nationalismus wurden der Bevölkerung auf der Grundlage des Erziehungsedikts von 1890 nähergebracht. Während Erziehung in der Tokugawa-Zeit hauptsächlich in Tempelschulen stattgefunden hatte, wurde die neue Pflichtschule zur Schule der Nation. Die Folgen waren fatal, was sich allerdings erst nach Jahrzehnten zeigte.

Erst unter dem Showa-Tenno (zu Lebzeiten: Hirohito), Enkel des Meiji-Tennos, unter dessen zweiundvierzigjähriger Herrschaft die Modernisierung Japans vollzogen wurde, nahm der Kaiserkult exzessive Formen an. Der Staats-Schintoismus wurde zu einer nationalistischen Ideologie, seine Institutionen wurden zum Instrument der Indoktrination. Der tendenziell universalistische Buddhismus wurde an den Rand gedrängt; Versuche buddhistischer Sekten, sich dagegen zu behaupten, wurden unterdrückt. Mit dem Gesetz über religiöse Körperschaften von 1939 schuf sich die Regierung das Mittel, alle Aspekte des religiösen Lebens zu kontrollieren. Zwei Jahre später wurde die Religiöse Liga geschaffen, in der Buddhisten, Schinto-Sekten und Christen zu einem geistigen Bollwerk der Nation im Krieg zusammengebunden wurden. Alle Religionen wurden dem Staat untergeordnet und mussten ihm dienen. Der Kaiser war ein Gott.

Religionsfreiheit heute

Die Potsdamer Erklärung der Siegermächte des Zweiten Weltkriegs verlangte von der japanischen Regierung die Gewährung von Religionsfreiheit. Die neue Verfassung von 1946 kam dieser Forderung nach. Sie degradierte den Kaiser zum blossen Symbol des Staates. Freiheit des Glaubens wird garantiert, die absolute Trennung von Kirche und Staat vorgeschrieben. Ihr Artikel 20 bestimmt, dass keine religiöse Körperschaft vom Staat bevorzugt werden darf und dass der Staat sich weder an religiöser Erziehung noch an anderen religiösen Praktiken beteiligen darf. Artikel 89 verbietet die Verteilung öffentlicher Mittel zugunsten religiöser Institutionen und Vereinigungen.

Nach diesen strengen Bestimmungen geniesst der Schintoismus keinerlei Privilegien mehr. Die japanische Bevölkerung lebt damit heute im Wesentlichen in Frieden. Nur gelegentlich zeigt sich, dass das Verhältnis zwischen Religion und Staat nach wie vor Konfliktstoff birgt, so etwa im Mai 2000, als der damalige Premierminister Yoshiro Mori Japan in einer öffentlichen Rede als «Land der Götter mit dem Kaiser im Zentrum» bezeichnete. Solche Äusserungen rufen Gespenster der Vergangenheit wach.

Ein die Gemüter immer wieder erregender Komplex ist die Verehrung der Kriegstoten als Helden am Yasukuni-Schrein im Herzen Tokios, der in den dreissiger und vierziger Jahren ein Hort des Ultranationalismus war. Wenn politische Amtsträger den Schrein besuchen, kommt es in China und Korea regelmässig zu Protesten. Auch die japanische Linke fühlt sich dann auf den Plan gerufen, da sie darin einen Verstoss gegen das Verfassungsgebot der Trennung von Kirche und Staat erblickt. Gerichtsverfahren mit dem Ziel, solche Besuche zu unterbinden, waren bisher erfolglos.

Gelegentlich hat zwar ein Richter festgestellt, dass damit tatsächlich gegen die Verfassung verstossen wird, aber zu einer letztinstanzlichen Verurteilung dieser Praxis ist es bisher nie gekommen. Immer wieder ist vorgeschlagen worden, eine staatliche Gedenkstätte zu errichten, um politische und diplomatische Irritationen zu vermeiden. Die mächtigen Hinterbliebenenverbände und konservative Kreise der regierenden Liberaldemokratischen Partei wussten das bisher aber zu verhindern. Und so bleibt der Yasukuni-Schrein einstweilen ein neuralgischer Punkt des Verhältnisses von Staat und Religion.

Ein weiteres Problem betrifft den rechtlichen Status religiöser Körperschaften. Nach den geltenden Gesetzen ist es in Japan einfach, als solche anerkannt zu werden. Diesen Status einer Gruppe wieder abzuerkennen, ist jedoch äusserst schwierig. Eingedenk der Beschneidung der Religionsfreiheit in den dreissiger und vierziger Jahren schreckt der Staat davor zurück. Selbst die Aum-Shinrikyo-Sekte, der diverse Mordanschläge zur Last gelegt werden, worunter auch der Gasangriff auf die Tokioter U-Bahn 1995, wurde zwar zeitweise unter Beobachtung gestellt, aber weder verboten, noch wurde ihr der Status der religiösen Körperschaft genommen. 

Als Hüter der Religionsfreiheit hat sich die Partei Neue Komeito profiliert. Sie ist der politische Arm der buddhistischen Laienorganisation Soka Gakkai, die sich gegen alles wehrt, was nach einem Übergriff des Staates auf die Sphäre der Religion aussieht. Besonders empfindlich reagiert sie auf jede Annäherung von Staat und Schintoismus, denn die unheilige Verbindung beider ist noch nicht vergessen.

Von diesen punktuellen Problemen abgesehen ist das Verhältnis von Staat und Religion im heutigen Japan recht entspannt. Rund 80 000 Schinto-Schreine und fast ebenso viele buddhistische Tempel können ohne staatliche Subsidien bestehen. Die Japaner finanzieren sie mit Spenden und Gebühren für allerlei kultische Dienste, ohne dabei übertriebenen religiösen Eifer an den Tag zu legen. Die vom Staat ausgeübte Kontrolle religiöser Körperschaften hält sich in engen Grenzen.

Prof. Dr. Florian Coulmas leitet das Deutsche Institut für Japanstudien in Tokio. 2007 erschien sein Buch «Die Gesellschaft Japans. Arbeit, Familie und demografische Krise» (C. H. Beck).

Copyright © Neue Zürcher Zeitung AG., Zürich/Schweiz; Ausgabe vom 5. Juli 2008

Dieser Artikel ist im Internet abrufbar unter:

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Recherche/Zusammenstellung: APD Schweiz.