08.03.2008

Türkei: Andrea Santoro wurde vor seiner Ermordung in Trapezunt "überwacht"

Türkische Sicherheitsbehörden in der Schwarzmeermetropole hatten den Phantomvorstellungen nationalistischer Organisationen über die Existenz einer pontusgriechischen "Untergrundorganisation" nachgegeben

Türkei: Andrea Santoro wurde vor seiner Ermordung in Trapezunt "überwacht"

Türkische Sicherheitsbehörden in der Schwarzmeermetropole hatten den Phantomvorstellungen nationalistischer Organisationen über die Existenz einer pontusgriechischen "Untergrundorganisation" nachgegeben

Ankara/Türkei, 21.02.2008 (KAP) Der römisch-katholische Priester Andrea Santoro ist vor
seiner Ermordung im Februar 2006 in der Schwarzmeer-Metropole Trabzon (Trapezunt)
monatelang von den türkischen Sicherheitsbehörden überwacht und abgehört worden. Dies
berichteten türkische Medien am Donnerstag. Santoro sei verdächtigt worden, eine
"separatistische Gruppe" in dem Gebiet zu unterstützen. Ein Gericht habe erlaubt, das Telefon
des Priesters drei Monate lang abzuhören. Türkische Nationalisten operieren seit Jahren mit der
Phantomvorstellung einer pontusgriechischen "Untergrundorganisation" in den Küstengebieten
am Schwarzen Meer.
Nach den Medienberichteten hatten die Sicherheitsbehörden in Trabzon am 8. November 2005
von der Justiz eine dreimonatige Genehmigung zur Telefonüberwachung des Priesters erwirkt.
Die Sicherheitsleute führten ernsthaft als Motiv den Verdacht an, der Priester sei für die
Gründung einer griechischen Pontus-Republik mit der Hauptstadt Trapezunt tätig. Drei Tage vor
Ablauf der Überwachungserlaubnis wurde der damals 60-jährige Santoro - ein italienischer
Staatsbürger - am 5. Februar 2006 in der katholischen Marienkirche von Trapezunt beim Gebet
erschossen.
Für die Tat wurde ein Jugendlicher verurteilt, der zum Zeitpunkt der Tat erst 16 Jahre alt war.
Er wurde als "Einzeltäter" dargestellt. Dass Santoro auch im Visier der Sicherheitsbehörden
war, wurde jetzt zufällig bei den Ermittlungen über den Mord an dem armenischen Journalisten
Hrant Dink bekannt. Sowohl der mutmaßliche jugendliche Mörder von Dink als auch seine
Hintermänner stammen aus Trabzon - sie kommen alle aus Familien, die keinen "türkischen"
ethnischen Hintergrund haben. Wegen nachlässig geführter Ermittlungen der Sicherheits- und
Justizbehörden gehen inzwischen Sonderinspektoren des Justizministeriums in Ankara dem
Verdacht nach, dass die Polizei in Trabzon in den Mord an Dink verwickelt war. In diesem
Zusammenhang wurden nun gerichtliche Abhörgenehmigungen überprüft.
Die Vorgänge belegen die bis heute ungelösten Minoritätenprobleme im Pontus, dessen
Hauptstadt Trapezunt ist. Ebenso wie in anderen Teilen Kleinasiens war auch im Pontus bis
1914 ein großer Teil der Bevölkerung griechisch-orthodox; ein anderer Teil war im 18.
Jahrhundert vor allem auf Grund von Predigten von muslimischen Geistlichen aus den
mystischen Vereinigungen ("Bektashi" usw.) zum Islam übergegangen, hatte aber die
griechische Sprache beibehalten.
Im Schatten des Ersten Weltkriegs begann die damals vom "Komitee für Einheit und
Fortschritt" (Ittihad ve Terakki) gestellte kaiserlich-osmanische Regierung auch im Pontus mit
einer Vernichtungspolitik gegen die Christen, die sich sowohl gegen Angehörige der orthodoxen
als auch der armenisch-apostolischen Kirche richtete. Trotz der dramatischen
Bevölkerungsverluste der Christen gab es nach dem Waffenstillstand zwischen dem
Osmanischen Reich und den Alliierten 1918 im Pontus eine intensive Bewegung für die
Schaffung einer griechischsprachigen Republik. Die pontusgriechischen Bewaffneten hätten
damals um ein Haar auch Kemal Atatürk festgesetzt.
Nach dem Vertrag von Lausanne mussten die Pontusgriechen 1923/24 die angestammte Heimat
verlassen. Auch im Pontus war das Religionsbekenntnis als Kriterium herangezogen worden,
daher konnten die islamisierten Griechen in der Heimat verbleiben; christliche wie islamisierte
Pontusgriechen waren aber durch die bei ihnen übliche besonders reine Version der griechischen
Sprache vereint, auch wenn sie bei den Islamisierten mit arabischen Buchstaben geschrieben
wurde. Die Kemalisten versuchten jahrzehntelang, auch bei den islamisierten Pontusgriechen jede
Erinnerung an ihre Identität auszulöschen. Umso größer war die Empörung, als 1996 der
pontusgriechische Autor Omer Asan unter dem Titel "Pontos Kulturu" ein Buch über die
griechischen Traditionen der Region herausbrachte. Das Buch löste eine heftige
Medienkampagne aus, Asan wurde unter Anklage gestellt, dann versuchte der damalige
türkische Justizminister Sami Tur (selbst kein "reiner Türke") die Sache wieder ins Lot zu
bringen. Im Dezember 2001 behauptete dann Brigadegeneral Bakir Onurlubas ernsthaft, es gebe
"griechische Pläne" zur "Destabilisierung der Pontus-Region". Später war sogar von
"Untergrundkämpfern" die Rede, die in Griechenland ausgebildet würden.
Offensichtlich hatten die türkischen Behörden daran Anstoss genommen, dass es Kontakte
zwischen Exilorganisationen der Pontusgriechen in aller Welt und den 300 islamisierten
pontusgriechischen Dörfern gibt. In den letzten Jahrzehnten war auch eine
Emigrationsbewegung von islamisierten Pontusgriechen nach Griechenland festzustellen,
obwohl sie dort nicht mit offenen Armen aufgenommen wurden.
Die Gesamtsituation ließ bei den türkischen Nationalisten unterschiedlicher Couleur die
Alarmglocken läuten. Dies wurde noch verstärkt, als Trapezunt nach der "Wende" ein
besonderer Anziehungspunkt für Arbeitsemigranten und -emigrantinnen aus Georgien,
Südrussland, der Ukraine und Moldawien wurde. Auf einmal waren jene orthodoxen Christen
wieder anwesend, deren man sich spätestens 1924 entledigt zu haben glaubte. Gerade diesen
orthodoxen Christinnen und Christen galt aber die besondere Fürsorge von Andrea Santoro. Er
kümmerte sich vor allem um die Frauen aus der einstigen Sowjetunion, die von islamistischen
Predigern in der Schwarzmeermetropole unterschiedslos als "Huren" attackiert worden waren.
Quelle: Katholische Presseagentur Kathpress (KAP), Wien/Österreich.