06.05.2008

Irak: Minderheiten auf der Flucht

Von Wolfgang Günter Lerch

Irak: Minderheiten auf der Flucht

Von Wolfgang Günter Lerch

16. April 2008 Der Irak ist seit alters her einer der klassischen multireligiösen Staaten in der Region gewesen. Unter der Diktatur Saddam Husseins und seiner Baath-Partei wurden allen Irakern zwar elementare Freiheits- und Menschenrechte vorenthalten. Aber die weltliche Ausrichtung des Regimes gewährte den Religionsgemeinschaften, zumal den Christen, einen gewissen Schutz. Den müsste zwar auch ein islamisch ausgerichtetes Regime gegenüber den „Schutzbefohlenen“ (Ahl al Dhimma) gewähren, doch das als Folge des Krieges von 2003 ausgebrochene Chaos hat dies alles obsolet werden lassen. Freilich haben auch schon vor dem Krieg Angehörige nichtmuslimischer Minderheiten, aber auch muslimische Kurden das Land verlassen. Die vormals etwa 130.000 Menschen starke, blühende jüdische Gemeinde des Iraks hatte das arabische Land schon nach der Gründung Israels zwischen 1948 und 1951 verlassen.

 

Saddam Hussein hofierte bisweilen die Christen

Die Chaldäer sind die größte nichtmuslimische Minderheit im Irak; die Zahlen ändern sich von Woche zu Woche. Die Chaldäer, die ihren eigenen Patriarchen mit Sitz in Bagdad haben, sind

seit dem 16. Jahrhundert mit Rom uniert und begreifen sich vielfach als die „Ur-Iraker“. Sie nennen sich nach der Landschaft Chaldäa im Südirak, aus der, wie die Bibel berichtet, schon der Stammvater Abraham aufbrach. Es ist dies der südliche Teil Mesopotamiens, der in der Antike

Kern der sumerischen Stadtstaaten mit ihren Zentren Ur und Uruk gewesen ist, das Land der Zikkurats oder Stufentürme, deren bekanntester in Babylon stand.

Der prominenteste chaldäische Christ war der langjährige Außenminister Saddam Husseins, Tariq Aziz, dessen gebildete Rhetorik und Sprachkenntnisse sich wohltuend vom Durchschnitt der irakischen Diplomaten abhob, ungeachtet der Tatsache, dass er die willige Stimme seines Herrn war. Da Saddam Hussein die Schiiten unterdrückte und ihnen misstraute, hofierte er

bisweilen sogar die Christen. Dies mag mit dazu beitragen, dass sich manches Ressentiment gegen sie in Gewalt entlädt. Erst unlängst erregte die Entführung und Ermordung desErzbischofs von Mossul, Paulos Faradsch Raho, im Nordirak die Öffentlichkeit.

 

Kein Tag vergeht ohne Übergriffe

Auch andere christliche Denominationen, die Syrisch-Orthodoxen und die sogenannten Assyrer, die sich nach der antiken Landschaft Assur und dem einst mächtigen Großreich der Assyrer nennen, sowie die Armenier sind entweder auf der Flucht oder Verfolgungen ausgesetzt. Kaumein Tag vergeht, an dem nicht Hiobsbotschaften über Übergriffe gegen Angehörige dieser

Minderheiten nach draußen gelangen. Die Gemeinden sind eigenständige Kirchen, sie verwenden in ihren Gottesdiensten zum Teil das Syrisch-Aramäische als Kirchensprache; die Armenier das Armenische. Die hauptsächlich im Norden des Iraks beheimateten Assyrer sind dort auch zwischen die muslimischen Kurden und Araber geraten, die miteinander streiten.

 Dies trifft bis zu einem gewissen Grad auch auf die Turkmenen (Turkomanen) zu, eine türkischsprachige, nach Hunderttausenden zählende muslimische Minderheit im Nordirak, deren Präsenz dort auf die Herrschaft turkmenischer Nomaden-Dynastien wie der Akkoyunlu und der Karakoyunlu, der Stämme vom Weißen und vom Schwarzen Hammel, sowie auf die osmanische Zeit zurückgeht, die bis 1917 währte. Der türkische Pascha verwaltete von Mossul aus Jahrhunderte lang eine der drei großen Verwaltungseinheiten, in die Mesopotamien unter den Türken aufgeteilt war. Bis heute betrachtet die türkische Regierung in Ankara das Schicksal der Turkmenen mit Argusaugen, empfindet sie für sie doch eine Schutzpflicht.

 

Geheimnisumwitterte Minderheit

Im Nordirak sind gegenwärtig auch die Yeziden wieder Verfolgungen ausgesetzt. Diese vornehmlich im Gebiet des Dschebel Sindschar lebende, geheimnisumwitterte Minderheit, inderen religiösen Überzeugungen sich alte babylonische und islamisch-sufistische Elemente sowie altpersische, zoroastrische Lehren finden, besteht praktisch nur aus Kurden. Auch in der Türkei, in Transkaukasien und in Westiran leben Yezidi. Ihrer muslimischen Umgebung galten und gelten sie wegen der Verehrung eines Engels, den sie in Gestalt eines Pfaus (Melek Taus) abbilden, als Götzen-, ja Teufelsanbeter. Nie waren sie, wie Juden oder Christen, als eine schützenswerte Minderheit des Islams anerkannt, sondern immer wieder blutigen Verfolgungen ausgesetzt.

Schon vor Jahren haben zahlreiche Yeziden ihre Heimat verlassen und sich in Europa und Amerika niedergelassen. Da die Yeziden in Dörfern des Dreiländerecks zwischen dem Irak, der Türkei und Syrien leben, geraten sie auch immer wieder unter den Druck von Schmugglerbanden, die grenzüberschreitend tätig sind und die ungeliebten Yeziden am liebsten aus ihren Dörfern vertreiben würden. Die schweren Anschläge im vorigen Jahr im Grenzgebiet zu Syrien hängen möglicherweise damit zusammen.

 

Vor Nachstellungen nicht sicher

Schon lange bedroht ist die religionsgeschichtlich nicht minder interessante Religiongemeinschaft der Mandäer oder Johannes-Christen, die Johannes den Täufer als zentrale Gestalt verehren. Man befürchtet, dass sie bald ganz ausgelöscht sein wird. Die kleine Religionsgemeinschaft von nur wenigen tausend Bekennern hatte ihre Sitze vornehmlich im Süden des Iraks, in und bei Basra, doch gab es auch in der Hauptstadt Bagdad eine Gemeinde.

 

Die Mandäer vereinen in ihrem um einen Taufritus kreisenden Glauben frühchristliche Elemente mit solchen der einst mächtigen spätantiken Religion der Gnosis, die zeitweise auch im frühen Christentum ihre Spuren hinterließ. Das Wort „manda“ bedeutet so viel wie „höheres Wissen, Erkenntnis“. Die Lehren der mandäischen Gnosis sind im Buch „Ginza“ (Der Schatz) oder „Sidra Rabba“ (Das große Buch) zusammengefasst. Obwohl sie eine „Buchreligion“ sind und damit zu den „ahl al kitab“ zählen müssten, waren die Mandäer vor Nachstellungen nicht sicher.

Text: F.A.Z.