31.05.2008

Religionsfreiheit muss auch für Christen gelten

von Wolfgang Schüssel*

Religionsfreiheit muss auch für Christen gelten

von Wolfgang Schüssel*

Das mediale Schlagwort der Stunde, wenn es um die Verletzung von Menschenrechten und Religionsfreiheit geht, heißt Tibet. Doch während die Berichterstattung über den Dalai Lama verständlicherweise weltweit Beachtung findet, droht einer uralten Kultur – nämlich der christlichen – in der arabischen Welt die Auslöschung. Bei aller berechtigten Sorge um Tibet darf man nicht vergessen, dass es auch in vielen anderen Ländern um die Religionsfreiheit schlecht bestellt ist. Christen werden aufgrund ihres Glaubens unterdrückt, diskriminiert und verfolgt. 

So ist die Anzahl der Christen im Irak seit Beginn des Irakkrieges im Jahr 2003 um etwa die Hälfte gesunken. Auch die Situation der im Irak Verbliebenen hat sich dramatisch verschlechtert. Die Berichte über die Ermordung des chaldäisch-katholischen Erzbischofs von Mosul, Faraj Rahho, erschütterten die Weltöffentlichkeit. Viel größer ist die Zahl unbekannter Opfer, die in keiner Statistik erwähnt werden. Repressalien stehen auf der Tagesordnung.

Die christliche Kultur in ihrer ursprünglichen Form hat ihre Wurzeln im Nahen Osten. Heute beträgt in der Türkei der Anteil der Christen nur mehr 0,1 Prozent. In Syrien betrug er um 1900 über 20 Prozent, derzeit sind es sieben Prozent.

Viele syrische Christen wanderten wegen Diskriminierungen in den Westen aus. Ähnlich ist die Situation in anderen arabischen Staaten. So hat etwa das Christentum im Libanon eine lange Tradition und bildete bis ins letzte Jahrhundert die religiöse Mehrheit. In jüngerer Zeit wanderten durch den Bürgerkrieg, den erneuten Krieg 2006 und den erstarkten islamischen Extremismus viele Christen aus dem ursprünglichen Zufluchtsland nach Europa, Amerika und Australien aus.

Aktuelle Berichte über staatliche, staatlich unterstützte oder staatlich tolerierte Gewalt gegen Christen liegen aus über 30 Ländern vor, so aus Saudi-Arabien, dem Iran, Indonesien und Ägypten. Allein in den letzten Monaten gab es zahlreiche Vorfälle in der Türkei, in Pakistan und Algerien.

Gegen weltweite Diskriminierung und Verfolgung von Christen müssen wir auch im vereinten Europa gemeinsam vorgehen. Mit dem Vertrag von Lissabon wird die Grundrechte-Charta der EU verbindlich. Angesichts der Berichte aus vielen Ländern über Diskriminierung und Verfolgung von Christen sollten die Rechte und Garantien, wie sie in der Charta verankert sind, verstärkt zur Leitlinie der Politik der EU im Rahmen der internationalen Beziehungen und des weltweiten Eintretens für die Sicherung der Menschenrechte – und damit der Religions(ausübungs)freiheit – gemacht werden.

In diesem Rahmen müssen wir uns für die Opfer von Verletzungen des Menschenrechts auf Religionsfreiheit einsetzen. Das ist auch der Inhalt eines von der Volkspartei im Parlament eingebrachten Initiativ-Antrags.

*Wolfgang Schüssel ist Klubobmann der ÖVP im Nationalrat. Von 2000 bis 2007 österreichischer Bundeskanzler.

Quelle: Wiener Zeitung, Wien/Österreich, Ausgabe vom 1. Mai 2008