04.11.2009

EU/Italien: Wütendes „Nein" zum Straßburger Urteil

Menschenrechtsgerichtshof: Kruzifixe müssen raus aus Schulen – Alle politischen Lager Italiens bestehen dagegen auf dem Kreuz als Ausdruck der eigenen Identität Von Guido Horst

EU/Italien: Wütendes „Nein" zum Straßburger Urteil

Menschenrechtsgerichtshof: Kruzifixe müssen raus aus Schulen – Alle politischen Lager Italiens bestehen dagegen auf dem Kreuz als Ausdruck der eigenen Identität

 

Von Guido Horst

 

WÜRZBURG, 5. November 2009 (Die Tagespost.de/ZENIT.org).- Über Nacht ist das von innenpolitischen Dauerkriegen und einem zerfleischenden Parteienstreit zerrissene Italien wieder geeint: Fast alle politischen Lager und fast alle italienischen Medien haben das vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ergangene Urteil gegen die Kruzifixe in den öffentlichen Schulen des Landes in der Luft zerrissen. Abwägende Urteile waren kaum zu lesen. „Die Europarichter trinken zuviel" titelte die Zeitung „La Padania", das Organ der norditalienischen Regionalpartei „Lega Nord", die bisher kaum durch ihre Nähe zum Christentum, sondern eher durch die Betonung der angeblich lombardischen (heidnischen) Wurzeln der norditalienischen Kultur aufgefallen war. Noch am Dienstag kündigte die italienische Unterrichtsministerin Maria Stella Gelmini an, dass ihre Regierung Einspruch gegen das Urteil des Straßburger Gerichts einlegen werde.

„Das Kreuz in den italienischen Schulklassen ist ein Symbol unserer Tradition. Niemand, nicht einmal ein ideologisch beeinflusstes Gericht, wird uns unserer Traditionen berauben und unsere Identität auslöschen", heißt es in einer Erklärung der Ministerin. Voraussichtlich strebt Italien eine Revision des Urteils vor einer mit siebzehn Richtern besetzten Großen Kammer des europäischen Menschenrechtsgerichtshofs an. Nur „Liberazione", die Zeitung einer der beiden kommunistischen Kleinparteien, und eine Sprecherin der radikalen Partei äußerten Verständnis für den Richterspruch.

Klägerin ist eine eingebürgerte Finnin

Fast hat das Straßburger Urteil für Italien die Bedeutung wie ein Titelgewinn der „Squadra azzurra" bei der Fußballweltmeisterschaft. Das Kreuz gehört so sehr zur Identität des mit der katholischen Glaubensgeschichte stark verwachsenen Landes, dass der nun zu beobachtende Schulterschluss so stark ist wie bei sportlichen Großereignissen, die Italien in einen nationalen Taumel fallen lassen. Luigi Bersani, ehemals Kommunist und seit kurzem Vorsitzender der oppositionellen Links-Partei, dem „Partito democratico", meinte in Brüssel vor Journalisten: „Ich glaube, dass bei diesen delikaten Angelegenheiten der gesunde Menschenverstand manchmal dem Recht zum Opfer fällt. Eine alte Tradition wie das Kreuz ist niemandem gegenüber offensiv." Wütender sind die Reaktionen aus den anderen politischen Lagern, wobei Politiker der rechtsgerichteten Parteien auch wortreich aufspießten, dass einer der sieben Straßburger Richter ein Türke ist und das Urteil auf die Klage einer Frau zurückgeht, die nach der Heirat mit einem Italiener zwar eingebürgert wurde, aber gebürtige Finnin ist.

Die Dame heißt Soile Lautsi, lebt in Abano Terme und hatte 2002 von dem Gymnasium „Vittorino da Feltre", auf das ihre damals elf und dreizehn Jahre alten Kinder gingen, verlangt, dass die Kreuze aus den Klassenzimmern verschwinden müssten. Sie berief sich dabei auf ein Urteil des italienischen Berufungsgerichts, dem zufolge Kreuze in Wahlbüros gegen die religiöse Neutralität des Staates verstoßen. Die obersten Richter Italiens wiesen die Klage jedoch 2006 ab, weil das Kreuz ein Symbol der Geschichte und damit der Identität des Landes sei. Sie argumentierten, das Kreuz sei als „Flagge" der einzigen in der italienischen Verfassung erwähnten Religion auch ein Symbol des Staates.

Der Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg wies das jetzt in seiner am Dienstag bekannt gewordenen Urteilsbegründung zurück. Es sei nicht zu erkennen, wie das Zeigen eines „Symbols, das vernünftigerweise mit dem Katholizismus verbunden werden kann", dem für eine demokratische Gesellschaft wesentlichen Bildungspluralismus dienen könne. Die Richter erklärten, Kruzifixe seien eindeutig ein religiöses Symbol. Dies könne für Kinder, die anderen oder keiner Religion angehören, „verstörend wirken. Das Recht, ohne Religion zu sein, gehöre zur Religionsfreiheit. Der Staat müsse dieses Recht besonders schützen. Besonders im Bereich von Bildung und Erziehung müsse der Staat auf die konfessionelle Neutralität achten, meinten die Richter. Mit dem Kreuz werde das Recht der Eltern eingeschränkt, ihre Kinder gemäß ihren Überzeugungen zu erziehen. Auch das Recht der Kinder, zu glauben oder nicht zu glauben, werde dadurch verletzt.

Das Urteil erhält alle Elemente, um – abgesehen von der Tatsache, dass es „von außen kam", und das genau an dem Tag, an dem die Europäische Union den Lissabon-Vertrag in trockene Tücher bringen konnte – bei vielen Italienern eine gewisse Europa-Skepsis wachzurufen, die in den vergangenen Jahren eher verhalten zu spüren war. „Da haben wir es also", beginnt ein Kommentar des bekannten Soziologen und Religionswissenschaftlers Massimo Introvigne: „Schon seit geraumer Zeit", schreibt er, „mehren sich die Signale, dass ein nächster Schlag der europäischen Institutionen gegen das Christentum und die katholische Kirche erfolgt." Rocco Buttiglione, Präsident der christdemokratischen Kleinpartei „Unione del centro", sprach von einem irrigen Richterspruch, den man mit Festigkeit zurückweisen müsse. „Italien hat seine Kultur, seine Tradition und seine Geschichte. Wer zu uns kommt, um hier zu leben, muss diese Kultur und diese Geschichte akzeptieren." Das Straßburger Urteil, meinte Pier Ferdinando Casini, Generalsekretär und damit Parteichef der „Unione del centro", sei die „erste Konsequenz der Ängstlichkeit der europäischen Regierungen, die sich geweigert haben, in der europäischen Verfassung die christlichen Wurzeln Europas zu erwähnen". Andere sprechen von „Christophobie", die sich in Europa ausbreite – das ablehnende Urteil in Italien ist eindeutig und umfasst die wichtigsten politischen und gesellschaftlichen Gruppierungen. Nur einer hat bisher geschwiegen: Silvio Berlusconi, der italienische Ministerpräsident. In allen Fragen, Kirche und Religion betreffend, lässt er sich zuerst von Mitarbeitern beraten, da er davon nichts versteht.

Rolle des Christentums soll geleugnet werden

Das Straßburger Urteil betrifft die öffentlichen Schulen des Staates. Die Kirche in Italien hat sich deshalb in der Kommentierung des jüngsten Urteils zurückgehalten. Die Italienische Bischofskonferenz ließ erklären, dass man auf Grundlage einer ersten Lektüre und Beurteilung von einer „partiellen und ideologischen Sichtweise" sprechen müsse, die in dem Urteil zum Ausdruck komme. Auch der Vatikan reagierte vorsichtig. Nachdem er zuerst erklärt hatte, dass Urteil genau studieren zu müssen, schob Vatikansprecher Federico Lombardi SJ erst am späten Dienstagabend eine Erklärung nach: „Es scheint, als wolle man die Rolle des Christentums für die Formung der europäischen Identität leugnen", erklärte Lombardi. Es sei schwerwiegend, dass gerade an Schulen ein Symbol für die Bedeutung religiöser Werte ausgegrenzt werden solle. „Religion leistet einen wertvollen Beitrag für die Erziehung und das moralische Wachstum der Person und ist ein wesentlicher Bestandteil unserer Zivilisation". Die Richter, meinte Lombardi weiter, betrachteten das Kreuz als ein „Zeichen der Trennung, des Ausschlusses oder der Freiheitsbeschränkung". Das entspreche weder dem Volksempfinden noch der Sichtweise der Kirche.

[© Die Tagespost vom 5.11.2009]