21.10.2009

EU: Der Staat darf das Fach Religion an öffentlichen Schulen gestalten

Der Strassburger Menschenrechtsgerichtshof greift in einen Berliner Streit ein

EU: Der Staat darf das Fach Religion an öffentlichen Schulen gestalten

Der Strassburger Menschenrechtsgerichtshof greift in einen Berliner Streit ein

NZZ Online, Mittwoch, 21. Oktober 2009, 19:42:50 Uhr - Der Menschenrechtsgerichtshof in Strassburg hat dem Staat ein Recht zur Gestaltung des Ethik- und Religionsunterrichtes eingeräumt. Damit erhält das Bundesland Berlin recht mit der Pflicht zum Besuch des Ethikunterrichts in öffentlichen Schulen.

Karl-Otto Sattler, Strassburg

Die Ausgestaltung eines Ethik- und Religionsunterrichts an öffentlichen Schulen liegt im Ermessen des Staats. Allerdings dürfen Schulgesetze, Lehrpläne und Unterricht religiöse und philosophische Überzeugungen der Eltern nicht aus ideologischen Gründen verletzen. So lautet die Kernaussage eines alle Mitgliedsländer des Europarats betreffenden Urteils des Strassburger Menschenrechtsgerichtshofs zum umstrittenen Ethikunterricht im deutschen Bundesland Berlin, dessen Besuch von der siebten bis zur zehnten Klasse obligatorisch ist.

Ethik-Unterricht rechtens

Eine siebenköpfige Kammer unter Vorsitz des Dänen Peer Lorenzen wies am Dienstag die Klage zweier protestantischer Eltern als unzulässig zurück, die sich gegen die verpflichtende Teilnahme ihrer Tochter an den Ethikstunden wehren. Aus Sicht des Gerichtshofes verstösst die Berliner Regelung weder gegen das Grundrecht auf Religionsfreiheit noch gegen die Neutralitätspflicht des Staats oder gegen das Recht der Eltern, gemäss ihren religiösen Überzeugungen ihre Kinder zu erziehen.

Hintergrund des Strassburger Spruchs ist der heftige Konflikt um den 2006 in Berlin unter dem Regierenden Bürgermeister Wowereit von der SPD eingeführten obligatorischen Ethikunterricht, der nicht auf religiöse Unterweisung, sondern auf die Auseinandersetzung mit verschiedenen Religionen und Weltanschauungen zielt. Gleichzeitig können die Kirchen an den Schulen Religionsstunden anbieten, deren Besuch aber freiwillig ist.

Letzteres war auch schon in den Jahrzehnten zuvor der Fall, allerdings gab es bis 2006 keine Pflicht- Ethikkurse. Anstelle dieses Unterrichts fordern die Kirchen zwei Wahlpflichtfächer Religion und Ethik, zwischen denen sich die Schüler entscheiden müssen. Ein entsprechendes Volksbegehren der Kirchen fand bei den Wählern jedoch keine Mehrheit. Die Europarats-Richter urteilen nun, dass die Beschäftigung mit ethischen Grundsätzen unabhängig von der kulturellen, religiösen oder ideologischen Herkunft der Schülerinnen und Schüler das Prinzip des Pluralismus gewährleiste. Der Lehrplan untersage den Lehrern eine unerlaubte Beeinflussung der Heranwachsenden. Die klagenden Eltern hätten nicht belegen können, dass der Berliner Unterricht in der Praxis ihre religiösen Überzeugungen nicht respektiert habe. Das Urteil widerspricht dem Argument, das Berliner Modell trage der christlichen Tradition Deutschlands nicht genügend Rechnung. Es liege im Ermessensspielraum eines Staats, zu entscheiden, welchen Stellenwert welche Religion im Schulunterricht haben solle. Auch sei es Sache des Staates, einen gemeinsamen Ethikunterricht für alle einzuführen oder die Heranwachsenden gemäss ihrer Religionszugehörigkeit in getrennten Kursen zu unterrichten.

Niemand wird benachteiligt

 

Die Berliner Regelung, so urteilt das Strassburger Kollegium, richte sich schon deswegen nicht gegen die religiösen Prinzipien von Eltern, weil der Lehrplan keiner Glaubensrichtung den Vorzug gebe. Aus der Menschenrechtscharta des Europarats mit ihrer Garantie der Religionsfreiheit lasse sich nicht das Recht ableiten, nicht mit Überzeugungen konfrontiert zu werden, die den eigenen widersprechen. Für den Gerichtshof ist ein Pflicht-Ethikunterricht vereinbar mit der Menschenrechtskonvention. Indes billigt das Urteil dem Staat das Recht zu, Ethik- und Religionsunterricht auch anders zu organisieren.

Entscheidend ist für Strassburg, dass die Lehrpläne an öffentlichen Schulen nicht gegen bestimmte Glaubensüberzeugungen gerichtet und damit pluralistisch sind.

21. Oktober 2009, Neue Zürcher Zeitung

Diesen Artikel finden Sie auf NZZ Online unter:

www.nzz.ch/nachrichten/international/der_staat_darf_das_fach_religion_an_oeffentlichen_schulen_gestalten_1.3899279.html

Copyright © Neue Zürcher Zeitung AG