22.10.2009

Islam: Gott fordert kein verhülltes Gesicht

RM, Datum: 22.10.2009 Muslimische Verbände und Gruppen kämpfen für nichts so heftig wie Kopftuch und Schleier. Für sie symbolisiert das Textil die Unterwerfung unter Allah. Die islamische Theologin Lamya Kaddor legt die einschlägigen Koranstellen aus. Und kommt zu einem anderen Ergebnis. Von Lamya Kaddor

Islam: Gott fordert kein verhülltes Gesicht

RM, Datum: 22.10.2009 Muslimische Verbände und Gruppen kämpfen für nichts so heftig wie Kopftuch und Schleier. Für sie symbolisiert das Textil die Unterwerfung unter Allah. Die islamische Theologin Lamya Kaddor legt die einschlägigen Koranstellen aus. Und kommt zu einem anderen Ergebnis.

Von Lamya Kaddor

 

Der Koran entwirft keine neue Kleiderordnung. Er mahnt zu einem sorgfältigeren, sittsameren Einsatz der Kleidung. Wie auch aus Koran 24:31 hervorgeht, gehörte eine generelle Verhüllung des Kopfes für Frauen schon in vorkoranischer Zeit zur weiblichen Garderobe. Auch wurde überall der Klassenunterschied zwischen freien, ehrbaren Frauen und beispielsweise Sklavinnen mit einer zusätzlichen Verhüllung deutlich gemacht. Bei den alten Griechen war die Verschleierung ebenfalls ein vertrauter Alltagsanblick. Im Christentum bestand von jeher die Sitte, sich „das Haupt zu verhüllen". Paulus sagt im ersten Korintherbrief: „Denn der Mann soll nicht das Haupt bedecken, da er Gottes Bild und Herrlichkeit ist; das Weib aber ist des Mannes Herrlichkeit. Denn der Mann ist nicht vom Weibe, sondern das Weib vom Manne. Darum soll das Weib eine Macht auf dem Haupte haben, um der Engel willen" (1.Kor 11,7–10). Die Halacha, das jüdische Gesetz, verlangte ebenfalls, dass Frauen sich vor allem außerhalb ihres Hauses mit bedecktem Haupt bewegen. Das Arabische kennt zahlreiche Begriffe für Varianten der Verschleierung des (weiblichen) Körpers. Die gebräuchlichsten acht sind hijab, jilbab, khimar, abaya, qina, burqu (burqa - Anm.d.Red), niqab, litham. Im Koran kommen nur die ersten drei Begriffe vor. Zu LebzeitenMohammeds war ein Gesichtsschleier oder das (partielle) Verdecken des Gesichts ein Zeichen gehobenen Standes. Ibn Kathir, ein Koranexeget aus dem 14. Jahrhundert, berichtet über den Kalifen Umar: „Er sah eine Magd, die einen Gesichtsschleier (Qina) trug. Da schlug er sie mit einem Ochsenziemer und sagte: ‚Willst du dich mit den freien Frauen gleichsetzen?‘." Gewöhnlich sicherten sich Frauen mithilfe des Schleiers Ruhe und Respekt der Männerwelt. In der deutschen Übersetzung von Rudi Paret sagt Sure 33, Vers 59: „Prophet! Sag deinen Gattinnen und Töchtern und den Frauen der Gläubigen, sie sollen (wenn sie austreten) sich etwas von ihrem Gewand (über den Kopf) herunterziehen. So ist es am ehesten gewährleistet, dass sie (als ehrbare Frauen) erkannt und nicht belästigt werden." Es ist nicht ganz klar, wie man sich das Herunterziehen vorstellen muss. Das entscheidende Wort ist „belästigen", im Arabischen „adhiya"/„yadha". Es trägt im hier passivisch benutzten IV. Wortstamm die Bedeutung „von jemandem geschädigt werden", „Unrecht erfahren". Grundlage der Verschleierung ist im Koran der Khimar. Laut Ibn Kathir kann man damit den Kopf verhüllen. Der österreichische Orientalist Aloys Sprenger, der 1861 zwar eine despektierliche Mohammed-Biografie schrieb, aber auch eine reichhaltige Handschriftensammlung zusammentrug, beschreibt den Khimar, den Rudi Paret als Schal übersetzt, ähnlich als ein großflächiges Halstuch, das das Dekolleté, den Hals und das Kinn verdeckt. Nach seiner Kenntnis der altarabischen und frühislamischen Quellen soll Mohammeds Frau Aischa den Khimar so getragen haben, wenn sie das Haus verlassen hat. Er dürfte locker über den Kopf geworfen worden sein, sodass er das Haar nur zum Teil bedeckte.

Der Qina wurde den beiden Gelehrten al-Mahalli und al-Suyuti zufolge über dem Khimar getragen. Wie Georg Jacob, ein deutscher Islamkundler und Turkologe des frühen 20. Jahrhunderts, schreibt, konnte der Qina ebenfalls ein größeres Tuch sein, das das „Haupthaar verhüllte und meist über das Antlitz heruntergeschlagen war". Dem vorislamischen Dichter Rabia Ibn Maqrum zufolge war das Tuch vornehmlich weiß. Es verdeckte das Gesicht der Frau. Ebenfalls über dem Khimar wurde der Jilbab getragen, ein Überwurf. Der Orientalist Aloys Sprenger stellte sich unter Jilbab wiederum ein über Stirn, Kopf und Nacken gewickeltes Tuch vor, „welches über die Schultern bis auf die Brust herabfloss". Khimar und Jilbab dürften sich ähnlich gewesen sein. Das Gesicht blieb beim Khimar und auch beim Jilbab prinzipiell frei, sodass die Aufforderung in Koran 33:59, den Jilbab herunterzulassen, Sinn ergibt. Eine „ehrenwerte" Frau zog sich also, wenn sie auf die Straße ging, möglicherweise zunächst den Khimar über Haupt und Oberkörper, legte anschließend den Qina an und warf über alles einen Jilbab. Der wohl natürlichste Grund für eine Kopfbedeckung auf der Arabischen Halbinsel ist für Mann und Frau der Schutz vor der Sonne, vor dem Staub und dem Sand. Auch wird dem Haar in der Antike positive wie negative Kraft beigemessen, etwa in der biblischen Geschichte um Simson und Delila oder bei den langhaarigen Göttern und Helden der griechischen Mythologie. Dort sollen Kopfbedeckungen die Kräfte abschirmen, die man dem Haar zuschrieb. Verbreitet ist außerdem die Vorstellung, dass der Schleier Frauen in Krisen behütet, beim Einsetzen der Menstruation, also zu Beginn der Pubertät, als Braut oder beim Tod eines Angehörigen. Bis heute gehören Schleier in verschiedenen Kulturen zu diesen Lebensabschnitten. Schließlich entfaltete das Haar seinen Reiz auch auf der sexuellen Ebene. Haar galt noch lange nach Mohammeds Lebzeiten als besonderes Schönheitsideal. In diesem Zusammenhang sollte die Verschleierung Phantasien zügeln und unerlaubten Beziehungen vorbeugen. All diese Aspekte der Verschleierung finden zwar im Koran keinen direkten Niederschlag, aber sie sind der Boden, auf dem das Schleiergebot des Korans entstand. In der islamischen Welt der ersten Jahrhunderte wurde die Koranstelle 33:59 zunächst nicht für alle Frauen umgesetzt. Die Schichtenunterschiede erwiesen sich als beständig. Die Ausweitung der Verschleierung geht mit einer weitgehenden Verbannung der Frauen aus der Öffentlichkeit und der Etablierung des Harems einher. Genauere Informationenüber den Ablauf liegen nicht vor. Ein Großteil der Argumentationen geht jedoch nicht auf die Zeit des Propheten zurück, sondern auf die (männliche) Gelehrtenwelt seit der Abbasiden-Zeit.

Im Lauf der islamischen Geschichte wurden auf dieser Basis meist vier weitere Koranabschnitte zur Beweisführung herangezogen: 24:31, 24:60, 33:33, 33:53. Sie beziehen sich aber entweder allein auf die Frauen des Propheten, oder sie haben nur indirekt mit einer Verschleierung des Körpers zu tun. Die Basis des koranischen Verständnisses vom Schleiertragen verbleibt somit im 59. Vers der 33. Sure. Er ist die einzige Offenbarung, die alle (muslimischen) Frauen – die des Propheten und der gläubigen Männer – explizit auffordert, ihren Jilbab herunterzulassen, und dafür eine Begründung liefert: Schutz vor Belästigung. Dennoch überwiegt heute die Vorstellung, die Verschleierung garantiere vor allem die Sittlichkeit und kennzeichne eine ehrbare, also gläubige Frau. Damit überschätzt man die Kraft eines Stückchen Stoffs. Zur Zeit des Propheten zeigte der Schleier zwar ebenfalls sittliches Verhalten – aber nur so wie jedes andere Kleidungsstück auch. Erst die Verknüpfung mit der Auslegung von Koranversen, die mit der Verschleierung des Hauptes direkt nichts zu tun haben, führten zum Dogma: Schleier gleich Sittlichkeit. Maßgeblich für die Entwicklung und die Ausweitung der Verschleierung auf alle Frauen waren männliche Gelehrte. Eines der heute meistbenutzten Wörter für den Schleier ist Hijab. Es kommt siebenmal im Koran vor, hat aber an keiner Stelle mit einer Bekleidung zu tun. So hängt zwischen den Bewohnern des Paradieses und der Hölle ein Hijab (7:46); Mohammed und die Ungläubigen trennt ein Hijab (17:45; 41:5). Gott redet durch göttliche Inspiration, durch seine Gesandten oder hinter einem Hijab (42:51). Auch der immer wieder mit dem Schleiergebot in Verbindung gebrachte Vers 33:33 trägt höchstens indirekt zum Thema bei. Er fordert die Frauen des Propheten auf, möglichst in ihren Häusern zu bleiben und sich nicht zum Zeitvertreib auf den Straßen aufzuhalten: „Ihr Frauen des Propheten! … bleibt in eurem Haus …, putzt euch nicht heraus (wa-la tabarrajna), wie man das früher im Heidentum (jahiliya) zu tun pflegte!" Das hier in der Verneinung benutzte Wort „tabarraja" hat nach Ibn Kathir drei Bedeutungen: 1. provokativ (vielleicht sogar lasziv, sich zur Schau stellend) vor den Männern herzugehen, 2. sich kokettierend in den Straßen aufhalten, 3. sich den Khimar so lose über den Kopf ziehen, dass er trotzdem den Blick auf die weiblichen Reize freigibt. Ein unüberlegtes Verhalten hätte unter damaligen Umständen zu einer Stammesfehde oder gar einem Krieg führen können. Zudem ziemte es sich für Frauen vom Rang einer Gattin des Propheten und Anführers nicht, sich in der beschriebenen Art zu verhalten. Ein weiterer Grund korrespondiert mit Koran 33:59: Die Frauen des Propheten sollten aufgrund ihrer besonderen Attraktivität vor Annäherungsversuchen fremder Männer abgeschirmt werden. Fast überall achten insbesondere ältere Muslimas sorgfältig auf ihre Verschleierung. Dabei ist es der Koran selbst, der sie in Vers 24:60 von dieser Verpflichtung befreit: „Für diejenigen Frauen, die alt geworden sind (die sich zur Ruhe gesetzt haben) und nicht (mehr) darauf rechnen können, zu heiraten, ist es keine Sünde, wenn sie ihre Kleider ablegen, soweit sie sich (dabei) nicht mit Schmuck herausputzen. Es ist aber besser für sie, sie verzichten darauf (sich in dieser Hinsicht Freiheiten zu erlauben)." Die meisten Korankommentatoren haben zu dieser Stelle nicht viel zu berichten. Alternativ lässt sich das arabische „allati la-yarjuna nikahan" auch übersetzen als: „die nicht auf eine Hochzeit hoffen", oder „die nicht erwarten zu heiraten". Man könnte diese Textstelle damit so verstehen: Wenn eine Frau auf dem Heiratsmarkt keine Angebote mehr bekommt, braucht sie bestimmte Körperregionen nicht mehr bedecken. Der Passus ermöglicht aber auch ein aktivisches Verständnis: Wenn eine Frau weder geheiratet werden will nochselbst zu heiraten wünscht, kann sie ihre hijab ablegen.

Der Vers kann also auch bedeuten, dass Frauen, die im Hinblick auf Sexualkontakte uninteressant für die Männerwelt sind, keines besonderen Schutzes vor Belästigungen durch einen Jilbab/Qina oder einer entsprechenden Verschleierung bedürfen. Damit stützt Koran 24:60 die These, dass die Kleidungsvorschriften auf die Abwendung von Schaden zielen.

In der rauen Welt der Arabischen Wüste, im 7. Jahrhundert, in der die moralischen Vorstellungen und sozialen Gegebenheiten kaum mit den heutigen zu vergleichen sind, verhalf der Schleier Frauen zu einer gewissen Sicherheit. Von einem direkten Zwang zur Verhüllung kann keine Rede sein. Die Schutzfunktion des Schleiers bezieht ihre Berechtigung aus den damaligen sozialen Gegebenheiten. Es beschädigt die Geltung des Korans nicht, wenn sein äußerer Wortsinn aufgrund der Beschränktheit des menschlichen Intellekts nur auf eine bestimmte Zeit bezogen ist. Die Koranexegese fragt nicht umsonst nach Gründen der Herabsendung der einzelnen Verse. Diese Gründe können sich nur auf die sozialen und politischen Umstände zur Zeit der Herabsendung beziehen. Eine historische Interpretation führt zu der Frage: Erfüllt die in Koran 33:59 geforderte zusätzliche Verschleierung des Kopfes noch ihren ursprünglichen Zweck? Im Deutschland der Gegenwart erfüllt die Verschleierung den ursprünglichen Zweck des Schutzes nicht mehr. Sie sorgt eher für das Gegenteil dessen, was Gott beabsichtigt hat, denn sie setzt ihre Trägerin Nachteilen etwa durch Diskriminierung aus. Schutz vor „Belästigungen" bietet heute ein funktionierendes Rechtssystem.

Dieser Argumentation folgend können muslimische Frauen sich – auch mit Unterstützung von Sure 24, Vers 31 – der vom Koran für die altarabische Stammesgesellschaft geforderten zusätzlichen Verhüllung entledigen. Was damit zunächst bleiben würde, ist der Khimar beziehungsweise jene Kopfbedeckung, die zum Bekleidungsstil aller Frauen der damaligen Zeit gehörte. Der Koran spricht sich weder dagegen aus, noch betont er diese Form der Bedeckung. Gott verwendet das Wort nur einmal im Koran (24:31), und zwar beiläufig im Zusammenhang mit einer Aufforderung zu sittlichem Verhalten. Somit stellt der Khimar lediglich ein Mode-Accessoire dar, das dem damaligen Zeitgeist entsprach. Im Deutschland des 21. Jahrhunderts wirken beispielsweise weibliche Frisuren allein nicht mehr erotisierend. Die Männerwelt denkt nicht mehr wie vor tausend Jahren. Das Kopftuch ist obsolet geworden.

Gekürzter Vorabdruck aus dem Buch „Islamverherrlichung", das im Januar 2010 im VS

Verlag, Wiesbaden, erscheint.

© Rheinischer Merkur Nr. 43, 22.10.2009

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