08.12.2010

Schweiz: Frauenkommission verurteilt die Verletzung von Frauenrechten

Kulturelle-religiöse Praktiken können eingeschränkt werden

Schweiz: Frauenkommission verurteilt die Verletzung von Frauenrechten

Kulturelle-religiöse Praktiken können eingeschränkt werden

 

Bern, 8.12.10 (Kipa) Religion und Kultur dürfen nicht dazu dienen, Frauen zu diskriminieren und Mädchen in der Schule zu benachteiligen. Die Gesellschaft ist verpflichtet, für die Errungenschaften des modernen Rechtsstaates einzustehen und diese Rechte allen Menschen in der Schweiz zu garantieren, verlangt die Eidgenössische Kommission für Frauenfragen (EKF). Beschränkungen von religiösen-kulturellen Praktiken zum Schutz der Rechte von Frauen und Mädchen seien angebracht.

Besonders die öffentliche Schule sei ein sensibler Bereich. Es bedürfe klarer Regeln, um das Recht der Kinder auf freie Entfaltung unabhängig vom Geschlecht zu schützen. Gleichstellungsrechte dürften nicht relativiert werden, schreibt die EKF in ihrem Communiqué von Mittwoch.

   In ihrem aktuellen Positionspapier formuliert die Kommission eine Reihe von Empfehlungen und verurteilt Frauen- und Mädchendiskriminierungen. Sie spricht sich gegen Rollenstereotype und herabsetzende geschlechtsspezifische Praktiken aus, seien diese nun religiös-kulturell begründet oder nicht.

Schwierige Fragen nicht ausklammern

Als ausserparlamentarische Kommission und beratendes Organ des Bundes sei es die Aufgabe der EKF, sich mit kontrovers diskutierten Fragestellungen der Chancengleichheit von Frauen und Männern differenziert und kritisch auseinanderzusetzen. Die Kommission habe sich intensiv mit Themen wie Kopfbedeckungen und Ganzkörperverschleierung befasst und auch mit dem Umgang mit Kleidern und Symbolen in der Schule. Weitere untersuchte Punkte sind Dispensationen für Unterrichtsmodule (Sexualkunde, Schwimmunterricht). Auch zu "weiteren heiklen Themen wie religiösen Privatschulen und Homeschooling" wurde unterschiedlichsten Standpunkte einbezogen.

   Auch schwierige Fragen gehörten auf die politische Agenda und müssten offen besprochen werden. Die "politische Bewirtschaftung" dieser Themen durch ausländerfeindliche Kreise sollte nicht dazu führen, dass die gleichstellungspolitischen Institutionen als Gegenreaktion davor zurückschrecken, klar gegen frauendiskriminierende Praktiken Stellung zu beziehen.

Religion und Verbot der Diskriminierung

"Beschränkungen von religiösen-kulturellen Praktiken zum Schutz der Rechte von Frauen und Mädchen sind angebracht", schreibt die Kommission. Religion und Kultur dürften nicht dazu dienen, Frauen zu diskriminieren, vom Genuss ihrer Rechte auszuschliessen oder Verletzungen zu rechtfertigen.

   Zu den elementaren Rechtspositionen, die der Staat zu achten und zu schützen habe, gehöre nicht nur die Religionsfreiheit, sondern auch das Verbot der Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, der Schutz der physischen und psychischen Integrität, die Ehefreiheit oder das Recht auf Grundschulbildung.

   In der Schweiz zählen das revidierte Ehe- und Scheidungsrecht und der Gleichstellungsauftrag im Bereich der Schule zu den wichtigsten Fortschritten auf dem Weg der Gleichstellung der Geschlechter. Diese Entwicklungen seien eng verbunden mit der Emanzipation von religiös-patriarchalen Einflüssen, wie sie durch die Frauenbewegungen und nicht zuletzt durch die sexuelle Revolution vorangetrieben wurde.

   Der Staat wird aufgefordert, diese Errungenschaften mit "Nachdruck zu erhalten und zu verteidigen". Dies gelte auch gegenüber religiösen oder kulturellen Ansprüchen von eingewanderten oder einheimischen Gruppierungen.

Ganzkörperverschleierung und Kopfbedeckungen

Bei der Gesichtsverschleierung, wie sie Burkas oder Niqabs mit sich bringen, "handelt es sich um eine stark frauendiskriminierende Praktik", schreibt die Kommission. Diese Kopfbedeckungen verhinderten, dass sich Frauen in der Öffentlichkeit "uneingeschränkt bewegen und ihr Gesicht zeigen, was ein wichtiges Element einer freien Gesellschaft ist".

Verbot nicht die Lösung

Ein strafrechtliches Verbot im öffentlichen Raum sei jedoch nicht angezeigt und wäre unverhältnismässig. Hingegen muss der Staat nach Auffassung der EKF das Tragen eines Gesichtsschleiers weder in der Schule noch sonst im Staatsdienst akzeptieren, und die Kantone und Gemeinden dürften beim Zugang zu staatlichen Einrichtungen und Dienstleistungen auf der Erkennbarkeit des Gesichts und auf der Identifikation beharren.

   Die Ganzkörperverschleierung sei nicht gleichzusetzen mit dem Kopftuch von Muslimas und weiteren geschlechtsspezifischen Kopfbedeckungen wie beispielsweise den Perücken orthodoxer jüdischer Frauen. Tragen erwachsene Frauen religiös motivierte Kopfbedeckungen im öffentlichen Raum aus freien Stücken, so sei dieser Entscheid aufgrund der Religionsfreiheit der Frauen ebenso zu respektieren wie das Tragen anderer religiöser Zeichen.

Kleider und Symbole in der Schule

Die öffentlichen Schulen und die dort angestellten Lehrpersonen sollten äusserlich und im Hinblick auf die Bildungsinhalte religiös neutral auftreten. Die EKF empfiehlt den Schulen, religiöse Kleidungs- oder Schmuckstücke bei Schülerinnen und Schülern zu akzeptieren, soweit sie die soziale Entwicklung und die Interaktion der Kinder nicht beeinträchtigen. Nicht toleriert werden sollten geschlechtsspezifische Bekleidungen, die Ausdruck einer herabsetzenden, kontrollierenden Haltung gegenüber Frauen und ihrer Sexualität seien und ein Geschlechterverständnis zum Ausdruck bringen, das den Gleichstellungsanliegen des Staates fundamental zuwiderlaufe.

   Darunter fallen aber nicht nur Gesichtsschleier und Kopftuch, sondern genauso lange Röcke, wie sie etwa von bestimmten freikirchlichen Strömungen vorgeschrieben würden.

Dispensationen für Unterrichtsmodule an öffentlichen Schulen

Die Schule habe Glaubensüberzeugungen nur soweit zu respektieren, als das Recht der Kinder auf freie Entfaltung und Entwicklung nicht verletzt werde. Der Schulstoff, die Schulfächer sowie schulische Veranstaltungen wie Lager oder Ausflüge sollten für alle Schülerinnen und Schüler obligatorisch sein. Dafür sollten grundsätzlich keine Freistellungen gewährt werden. Die EKF begrüsst eine restriktivere Haltung der Kantone in diesen Fragen.

Religiöse Privatschulen und "Homeschooling"

Auch die religiösen (und anderen) Privatschulen müssten stärker dazu angehalten werden, die staatlichen Bildungsziele einzuhalten. Dazu gehört auch, dass Mädchen weder bei der Bildungsvermittlung noch in ihren sozialen Handlungen zurückgebunden oder diskriminiert werden.

   Eine Bewilligung für "Homeschooling" sollte nur ausnahmsweise erteilt werden, sofern ausreichende sachliche Gründe vorliegen, oder nur für kurze Zeiträume.

kipa/com/gs/www.kipa-apic.ch