30.06.2010

IRAKISCHE CHRISTEN:Rettung aus der Löwengrube

Not und Verfolgung bewegten sie zur Flucht. 2500 haben in Deutschland Aufnahme gefunden. Doch es ist nicht leicht für die Familien, Boden unter die Füße zu bekommen. Ein Besuch in Essen-Katernberg. VON JÜRGEN KAHL

IRAKISCHE CHRISTEN:Rettung aus der Löwengrube

Not und Verfolgung bewegten sie zur Flucht. 2500 haben in Deutschland Aufnahme gefunden. Doch es ist nicht leicht für die Familien, Boden unter die Füße zu bekommen.

Ein Besuch in Essen-Katernberg.

VON JÜRGEN KAHL

 

Der Nachbar muss einiges durcheinandergebracht haben. Früher, sagt er und zeigt auf den schlichten Klinkerbau auf der anderen Straßenseite, sei das mal eine katholische Kirche gewesen.Nun habe sich dort „so ein muslimisches Zentrum einquartiert“. Die Auskunft erklärt den Argwohn, mit dem der Anwohner vom Fenster seiner Wohnung aus beobachtet, wie sich an den Wochenenden der Parkplatz gegenüber füllt, kinderreiche Familien aus den Autos steigen und die Jungen noch schnell ein paar Bälle wechseln, bevor sie mit den Eltern im Gebäude verschwinden. Auch an diesem Samstag wird auf dem Rasenvorplatz gebolzt. Ein Blick ins Innere der vermeintlich islamisierten Kirche hätte den Mann von gegenüber komplett verwirrt. Eine Gruppe Jugendlicher in Kostümen übt im Chorraum ein biblisches Stück ein. Als Blickfang befindet sich hinter ihnen ein satt goldfarben schimmerndes Altarbild, aus dem zwei orientalisch anmutende Heilige namens Addai und Mari der Probe zuschauen. Zu Besuch in Essen-Katernberg. Ein denkbar ungewöhnlicher Ort, um die Bekanntschaft der beiden frühchristlichen Märtyrer zu machen, die im Auftrag des Apostels Thomas Mesopotamien missioniert hatten. Ein paar Straßenzüge von der Kirche entfernt, zieht die zum Weltkulturerbe geadelte Zeche Zollverein Scharen von Touristen an. Hier, zwischen Schonnebecker Straße und Auf der Reihe, leben Patchwork-Milieus im sozialen Abseits des verpassten Strukturwandels.

Wer in dem Viertel nach Gemeinschaft sucht, findet sie am ehesten beim Freitagsgebet in der nahe gelegenen Moschee und in den Kulturvereinen der muslimischen Volksgruppen. In dieser Umgebung wirkt die Kirche, die nach Albertus Magnus benannt war und nun die Namen der Heiligen Addai und Mari trägt, wie ein Fremdkörper. Und vielleicht gäbe es sie schon gar nicht mehr, wenn sich nicht aus dem Irak geflüchtete chaldäische Christen ihrer angenommen und der Gemeinde neues Leben eingehaucht hätten. Als der Essener Weihbischof Franz Vorrath im März 2009 in einem feierlichen Pontifikalamt die Kirche an die Gemeinde und ihren vom Patriarchen von Babylon, Emmanuel III., aus Bagdad nach Essen entsandten Pfarrer übergab, ging für sie ein lange gehegter Wunsch in Erfüllung. Da zählte die chaldäisch-katholische Gemeinschaft im Bistum Essen, die mit jedem neuen Flüchtlingsschub ein Stück größer geworden ist, schon über 900 Gläubige.

Auf der Straße des Todes

An diesem Samstag probt die junge Laienspielgruppe ihren ersten großen Auftritt beim interkulturellen Jugendgottesdienst, zu dem diesmal die Gemeinde in Katernberg eingeladen hat. Daniel in der Löwengrube haben sie sich dafür ausgesucht – jene biblische Geschichte von drohender Vernichtung und Rettung aus höchster Not, wie es die jugendlichen Darsteller in ihrem eigenen Leben nicht realer hätten erfahren können. Sabah Omar aus Bagdad zum Beispiel.

Er war 17 Jahre alt, als die Christenverfolgung im Jahr 2006 seine Familie traf. Ein Onkel von ihm wurde von einer muslimischen Terrorbande entführt und ermordet. Da rafften seine Eltern nur noch ein paar Habseligkeiten zusammen und machten sich mit den beiden Söhnen

in einem alten Chevrolet auf die Flucht nach Syrien. „Auf der Straße des Todes“, fügt der 18-jährige Ziad Toma hinzu, dessen Familie den gleichen Weg genommen hat: „Fünfzehn endlos lange Autostunden durch ein Gebiet, in dem sunnitische Milizen nach durchreisenden Schiiten fahndeten. Wir hatten panische Angst, an irgendeiner Straßensperre abgefangen und verschleppt oder gleich umgebracht zu werden.“ Im vergangenen Frühjahr, nach drei Jahren quälender Ungewissheit in einem hoffnungslos überfüllten Flüchtlingslager bei Damaskus, kam für beide Familien die Erlösung: Landung auf dem Flugplatz Hannover, in einem fremden Land, aber endlich auf sicherem Boden. Als sogenannte Kontingentflüchtlinge gehören sie zu den 2500 überwiegend christlichen Irakern, zu deren ständiger Aufnahme sich Bund und Länder zum ersten Mal im Rahmen des Resettlement-Programms des Uno-Hochkommissars für Flüchtlinge (UNHCR) verpflichtet hatten. Seit Mai sind alle 2500 Flüchtlinge in Deutschland angekommen.

Eine Aktion selektiver Hilfsbereitschaft. Kaum waren die letzten der 545 von Nordrhein- Westfalen aufgenommenen Iraker eingeflogen, sprach der Integrationsminister des Landes, Armin Laschet (CDU), von einer „neuen Willkommenskultur“ und von der „sicheren Zukunft in der neuen Heimat“, obwohl die Flüchtlinge allmählich begreifen, wie schwer es für sie noch werden wird, hier festen Boden unter die Füße zu bekommen. Unerklärt bleibt ein Umstand, der nicht

in das freundliche Bild der Hilfsbereitschaft passt. Die Flüchtlingshilfsorganisation Pro Asyl hat darauf hingewiesen. Im gleichen Jahr nämlich, in dem die Neuankömmlinge in Deutschland empfangen wurden, stieg die Zahl der Fälle, in denen das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge den Schutzstatus von bereits hier lebenden irakischen Flüchtlingen widerrief, sprunghaft auf über 2300 an. Das entspricht mehr als 60 Prozent der im gleichen Zeitraum überprüften Fälle. Dennoch ist nicht zu übersehen, dass sich alle Beteiligten entgegen der üblichen Praxis bemüht haben, den im Rahmen der humanitären Aktion aufgenommenen Flüchtlingen den Start nach Kräften zu erleichtern. Das gilt in Nordrhein-Westfalen besonders für die Stadt Essen, wo mit inzwischen rund 2300 überproportional viele Iraker leben. Da hat selbst Rudi Löffelsend, der als Diözesanreferent des Caritasverbandes im Bistum Essen diese Flüchtlinge schon seit vielen Jahren betreut und häufig im Irak unterwegs ist, gestaunt, „was da auf einmal alles möglich war“. Die zuständigen Behörden, Wohlfahrtsverbände und Kirchen hatten sich zu einem runden Tisch zusammengefunden. So ging das, worauf ein gewöhnlicher Flüchtling Wochen und Monate warten muss, für die Neuankömmlinge, die von speziell ausgebildeten Integrationslotsen begleitetet wurden, Schlag auf Schlag: Die Ausstellung des blauen Passes (Aufenthaltsgenehmigung), die erste Beratung bei der Arbeitsvermittlung und die Anzahlung auf die Sozialhilfe. Schon zwei Wochen später büffelten Alt und Jung über ihrer ersten Deutschlektion.

Diskriminierung anderer?

Was Löffelsend „eine kleine Sensation“ und Minister Laschet die „neue Willkommenskultur“ nennt, empfinden andere, die als normale Asylbewerber keine Vorzugsbehandlung genossen haben, als diskriminierend. Das sorgt für Spannungen, anfangs auch in der chaldäischen Gemeinde, erst recht bei muslimischen Irakflüchtlingen. Majid Al-Taei kam als schwer versehrtes Opfer des 1988 von Saddam Hussein befohlenen Giftgasangriffs auf das Kurdengebiet im Norden nach Deutschland. Vor zehn Jahren gründete der 50-Jährige in Essen die Irakische Sozial- und Kulturgemeinde als Anlaufstelle für Hilfe suchende Landsleute. Ständig hat er mit mal mehr, mal weniger offenen Diskriminierungen zu tun. „Viele von den muslimischen Flüchtlingen haben nicht weniger unter Verfolgung gelitten“, sagt er. „Aber sie werden hier oft so behandelt, als müssten sie erst beweisen, dass sie unschuldig sind.“ Anders als bei den irakischen Christen habe seinem Verein niemand bei der Suche nach einem Gebetsraum geholfen. Das Geld, das sie für die Miete geeigneter Räumlichkeiten brauchten, könnten die Mitglieder von sich aus aber nicht aufbringen. Eine sichere Zukunft in der neuen Heimat? Für die wachsende Zahl von muslimischen Flüchtlingen, deren Duldung nach dem Widerruf des Schutzstatus nur noch am seidenen Faden des vorläufig geltenden Abschiebestopps hängt, ist diese Perspektive abgeschnitten. Bei den Rückkehrerberatungsstellen des Caritasverbands Essen und der Diakonie Köln melden sich daher seit einigen Monaten mit zunehmender Häufigkeit auch irakische Flüchtlinge, die zurück in ihre Heimat wollen, vor allem in den als sicher geltenden kurdischen Norden.

Dass Schweden und England irakische Flüchtlinge bereits in großem Maße abschieben, sich bisher aber kaum eine internationale Organisation vor Ort engagiert, „um die völlig überforderten lokalen Behörden bei der Wiedereingliederung der Heimkehrer zu

unterstützen“, hält Diözesanreferent Löffelsend für verantwortungslos. Die Essener Caritas und die Diakonie in Köln wollen Abhilfe schaffen und mit Mitteln aus dem Europäischen Rückkehrerfonds als ersten Schritt ein gemeinsames Verbindungsbüro in Erbil, der Hauptstadt der Autonomen Region Kurdistan, einrichten.

Bei den christlichen Flüchtlingen in Essen sitzt das Trauma der erlittenen Verfolgung noch so tief, dass es den Gedanken an eine Rückkehr gar nicht erst aufkommen lässt. Auch nicht bei Waleed Matti, der sein eigenes Haus und einen ordentlich bezahlten Job als Buchhalter in Bagdad gegen Hartz IV, eine notdürftige Wohnung für seine fünfköpfige Familie im Flüchtlingsheim und eine beruflich noch völlig ungewisse Zukunft eingetauscht

hat. „Können Sie sich vorstellen, wie das ist“, fragt der 45-Jährige, „wenn Ihnen die muslimischen Nachbarn, mit denen Sie jahrzehntelang friedlich zusammengelebt haben, plötzlich Zettel mit Todesdrohungen an die Haustür spicken und Sie mit anonymen Briefen voller Hass terrorisieren?“

„Wir bleiben keinen Tag länger“

 

Es blieb nicht bei Drohungen. Das Geschäft der Familie seiner Schwester wurde überfallen, sie waren wegen des Verkaufs von westlicher Musik ins Visier fanatischer Muslime geraten. Matti selbst wäre nicht mehr am Leben, hätten er und sein Bruder im Sommer 2006 nicht gerade noch rechtzeitig die Sprengstoffladung entdeckt, die in ihrem Pkw versteckt war. Über Nacht sei daraufhin zwischen ihm und seiner Frau die Entscheidung gefallen: „Wir bleiben keinen Tag länger.“

Erst kürzlich, als ihn Augenzeugenberichte über blutige Ausschreitungen gegen Christen erreichten, die sich im nordirakischen Mossul ereignet hatten, hat der Albtraum die Mattis wieder eingeholt. Auch Bekannte waren unter den rund 300 Flüchtlingen, die sich Hals über Kopf auf das nur wenige Kilometer entfernte, sicherere Kurdengebiet retteten und zum Teil bei Mönchen des chaldäischen Ordens vom heiligen Antonius Aufnahme fanden.

Die nicht enden wollenden Leidensgeschichten von Verfolgung und Flucht lassen die humanitäre Aktion, mit der sich die EU zur Aufnahme von insgesamt gerade mal 10 000 Irakern verpflichtete, zu einer kaum mehr als symbolischen Geste schrumpfen. Für die Mattis und die anderen Familien, die entkommen sind, ist es hingegen kein kleiner Trost, dass sie in der chaldäischen Kirche in Katernberg eine Gemeinschaft gefunden

haben, die ihr Schicksal teilt und ihnen mit Rat und Tat bei der Bewältigung des Alltags zur Seite steht. Für Pfarrer Sami Danka, der vor seiner Entsendung nach Essen ein Priesterseminar in Bagdad leitete, heißt das, dass er für die Kirchengemeinde noch ganz andere Aufgaben als die des Seelsorgers zu schultern hat.

Er tut das mit sehr gemischten Gefühlen: „Ich freue mich mit jedem, der hier ankommt und endlich in Sicherheit ist. Aber gleichzeitig macht es mich unglaublich traurig, sehen zu müssen, wie mit jedem Flüchtling, der das Land verlässt, die lange und lebendige Tradition religiösen und kulturellen christlichen Lebens im Irak ein Stück weiter stirbt.“

 entnommen aus www.rheinischer-merkur.de/index.php;