04.11.2010

Türkei: Kurdenpolitik : Sinneswandel im Zeitlupentempo

von Charlotte Joppien und Onur Yildiz

Türkei: Kurdenpolitik : Sinneswandel im Zeitlupentempo

von Charlotte Joppien und Onur Yildiz

 

»Wir waren dem Frieden noch nie so nah«, ließ der türkische Innenminister Beşir Atalay Ende September nach einem Treffen mit Vertretern der US-Armee verlauten. Auch mit Masoud Barzani, dem Präsident Irakisch-Kurdistans, versprach der Minister über die dortigen PKK-Kämpfer zu sprechen. Derweil konferierte der ehemalige PKK-Führer Abdullah Öcalan nicht nur mit dem türkischen Geheimdienst, sondern auch mit prominenten kurdischen Politikern. Die Vertreter der Kurdenpartei BDP wiederum stehen im Austausch mit dem türkischen Justizminister und dem Vize-Premier.

Erst seit kurzer Zeit versucht Ankara, durch Dialog eine Lösung zu erreichen. Bislang hatte der Staat kurdische Aufstände, die es seit Beginn des 20. Jahrhunderts immer wieder gab, repressiv beantwortet. Bis in die 1970er Jahre waren diese Aufstände vereinzelte, regionale Erhebungen gegen die Beschneidung der Selbstverwaltung gewesen. Dann aber entwickelte sich unter dem Einfluss eines internationalen Identitätsdiskurses ein kurdischer Nationalismus. 

Unter der Führung Öcalans wurde daraus eine linke Ideologie des Befreiungskampfes abgeleitet, die gedanklich über einzelne Aufstände hinausging und neben Studenten und Arbeitern auch die kurdische Landbevölkerung erfasste. Kritisiert wurden auch die Feudalstrukturen innerhalb der kurdischen Gemeinschaft. Die Ausübung von Gewalt, nicht nur gegen türkische Militärs und Zivilisten, sondern auch gegen »kollaborationsunwillige« Kurden war ein wichtiges Element der Ideologie der 1978 gegründeten Arbeiterpartei Kurdistans, der PKK. 

Schlingerkurs der AKP

Seit der Entstehung dieser Organisation ist die Kurdenfrage eines der dominierenden Themen in der türkischen Politik. Viele Türken haben Angst vor einer vollständigen Abspaltung des überwiegend kurdisch besiedelten Südostanatoliens. Ganz abwegig ist diese Sorge nicht – dem ausländischen Besucher wird Diyarbakır hinter vorgehaltener Hand häufig als »unsere zukünftige Hauptstadt« präsentiert. Auch historisch ist ein solcher Anspruch denkbar, war doch nach dem Ersten Weltkrieg den Kurden ein eigener Staat in Aussicht gestellt worden.

Am nächsten kommt dem heute der weitgehend autonome kurdische Nordirak. Diese Nachbarprovinz wird in der Türkei nicht nur wegen der vermuteten Sezessionsgefahr im eigenen Land mit Sorge betrachtet: Man verdächtigt den Nordirak, PKK-Kämpfern Unterschlupf zu gewähren. Die türkische Armee startete daher im Februar 2008 eine Bodenoffensive mit 10.000 Soldaten. Die USA brauchen zwar die Kurden als Partner im Irak – doch genauso die Türkei als verlässliches NATO-Mitglied in einer instabilen Region. So fiel die Kritik des amerikanischen Außenministeriums, »dieser Einmarsch ist nicht die beste Nachricht«, mild aus.

Seit einigen Jahren zeichnet sich in der Türkei ein Sinneswandel in Bezug auf die Kurdenfrage ab. Erstmals rückte eine politische Lösung durch die Regierungsübernahme der neoislamistischen AKP im Jahre 2002 in den Bereich des Möglichen. Allerdings schwankt die AKP immer wieder zwischen der Annäherung an kurdische Positionen und der Übernahme nationalistischer Rhetorik. Der kurdische Politiker Ahmet Türk bemerkte dazu: »Immer, wenn die AKP versucht, sich mit dem Militär zu arrangieren, verkauft sie die Interessen der Kurden.« So kündigte 2004 denn auch die PKK ihren Waffenstillstand auf und verübte mehrere Anschläge.

Auch bei den Militärs herrscht inzwischen die Erkenntnis, dass der Konflikt mit militärischen Mitteln allein nicht zu entscheiden sei und diese durch wirtschaftliche, soziale und kulturelle Maßnahmen begleitet werden müssten. Damit findet erstmals von Seiten des Militärs eine Unterscheidung zwischen terroristischen Aktionen durch die PKK und legitimen Forderungen kurdischer Bürger statt. Auch Öcalans Nachfolger an der Spitze der PKK, Murat Karayılan, betonte den prinzipiellen Willen der PKK zur gewaltlosen Konfliktlösung und nahm Abstand vom Ziel der Errichtung eines eigenen Staates.

Seit diesem erfolgversprechenden Aufbruch ist über ein Jahr vergangen. Ein gemeinsamer Diskurs und eine gemeinsame politische Agenda zur Kurdenfrage fehlen bislang. Parteien wie die kemalistische CHP oder die ultranationalistische MHP standen einem Dialog bisher ablehnend gegenüber und wiesen die Aufforderung der AKP, eine stärkere Anerkennung kurdischer Identitäten zu diskutieren, prinzipiell zurück. Während sich in der CHP nach der Wahl von Kemal Kılıçdaroğlu als neuem Parteivorsitzenden, der eher für sozialdemokratische denn nationalistische Positionen steht, eine Wende abzeichnet, verweigert sich die MHP  noch immer jeglicher politischer Herangehensweise an die Kurdenfrage.

Die BDP verfolgt einen ambivalenten Weg. Sie betont ihre Bedeutung in Südostanatolien und ihre »natürliche Nähe« zum kurdischen Volk, besteht bei konkreten Anliegen jedoch immer darauf, den in lebenslänglicher Haft befindlichen Abdullah Öcalan als geistigen Vater der kurdischen Bewegung einzubeziehen. Diese Unklarheit über die politische Repräsentation der Kurden erschwert eine Lösungsfindung.

Das Verfassungsreferendum als politische »Roadmap« für eine pluralistischere Türkei?

Zu einem friedlichen Zusammenleben von Türken und Kurden scheint es weit. Während der als »Dörtyol-Unruhen« bekannten Ausschreitungen gingen im Juli an mehreren Orten Mobs aufeinander los, nachdem im Ort Dörtyol vier türkische Soldaten erschossen worden waren. Viele vermuten, dass die Eskalation der Ereignisse auf das Konto rechtsextremer Provokateure ging. Werden diese Zwischenfälle zur Regel, wird ein Zusammenleben der Ethnien in manchen Gegenden nur noch schwer möglich denkbar sein – was Beobachter wie der ehemalige Vorsitzende der Rechtsanwaltskammer von Diyarbakır, Sezgin Tanrıkulu, schon länger befürchten. Vor allem die jüngeren Generationen haben nie ein friedliches Miteinander erfahren, ihre Wahrnehmung vom jeweils Anderen ist allein durch den gewalttätigen Konflikt geprägt.

Der Waffenstillstand, den die PKK Anfang August dieses Jahres ausgerufen hat, wird noch mehrmals verlängert werden müssen, bis Vertrauen wächst. Auch die Auswirkungen des am 12. September 2010 durchgeführten Verfassungsreferendums werden erst zukünftig bewertet werden können. Nach der Bestätigung der Reformen mit 58 Prozent der Stimmen hat die AKP nun eine stärkere Handhabe in Bezug auf die Kurdenfrage. Die Verfassungsänderung könnte als Grundlage für eine politische »Roadmap« hin zu einer pluralistischeren Türkei dienen.

Gleichzeitig hat sich die BDP durch ihren Aufruf zum Referendumsboykott, dem viele Kurden folgten, wieder als Ansprechpartner positioniert. Sie hat jüngst ein politisches Programm zur Lösung der Kurdenfrage vorgelegt, das eine politische Autonomie für die Kurdengebiete und die Einführung von Schulunterricht in kurdischer Sprache fordert.

Dass die CHP zudem eine Amnestie für ehemalige PKK-Mitglieder vorgeschlagen hat, ist ein starkes Symbol für den Wandel des politischen Klimas in der Türkei. Aktuell aber lehnen die AKP und die anderen oppositionellen Parteien die Forderungen der BDP noch grundsätzlich ab.

 zenithonline