08.11.2010

Tschetschenien: Raub der Tschetscheninnen

Jung und schön zu sein, ist für Frauen im Nordkaukasus lebensgefährlich

Tschetschenien: Raub der Tschetscheninnen

Jung und schön zu sein, ist für Frauen im Nordkaukasus lebensgefährlich

 

Junge Frauen führen in Tschetschenien ein gefährliches Leben. Es drohen ihnen gewaltsamer Brautraub, Frauenhandel und Ehrenmord. Noch immer herrschen die alten patriarchalen Sitten, und diese werden angereichert mit Regeln des radikalen Islam und der politischen Repression. Ein permanenter Skandal. von Irena Brežná

Eine Tschetschenin erklärt bei ihrer Einreise in die Schweiz, sie könne in Tschetschenien nicht leben, da ihre 15-jährige Tochter Selima* schön sei und die jüngere Tochter sich ebenfalls in diese Richtung entwickle. Es sei höchste Zeit gewesen zu fliehen. Sie zeigt den verdutzten Migrationsbeamten ihre dunkelhaarigen Mädchen, als demonstriere sie Folterspuren. Weibliche Schönheit als Asylgrund?

Es ist in Tschetschenien in der Tat gefährlich geworden, jung, weiblich und schön zu sein. Der Blick des Präsidenten Ramsan Kadyrow könnte länger auf Selimas samtener Haut ruhen bleiben. Die kadyrowzy, seine zwanzigtausend Mann zählende Privatarmee, lesen ihm jeden Wunsch von den Augen ab. Eine Mätresse erhält eine Wohnung in den frisch errichteten Prunkbauten von Grosny. Weder Selima noch ihre Familie könnten gegen die Potenz des absolutistischen 34-jährigen Herrschers, der Putins Protégé ist, aufbegehren. Einerseits würden sie mit Geld überhäuft, andererseits wissen sie, dass die Aufmüpfigen Folter mit tödlichem Ende ereilen kann.

Auch die Frauenhändler suchen ihre Ware. Ein Imam erzählt die Geschichte der Dorfschönheit Sargan,* die als Sexsklavin nach Südrussland verschleppt wurde. Nach ein paar Monaten stellte man sie vor die Wahl: Entweder verkaufen wir dich in ein arabisches Land, oder wir sagen deiner Familie, was du treibst. Sargan entschied sich für den Tod durch die Hand ihrer Liebsten. Indes erfuhr der Imam von den Dorfbewohnern, dass Sargans Familie beabsichtige, sie zu töten, da sie die Familienehre beschmutzt hatte. Er kam den zum Ehrenmord bereiten Brüdern zuvor, versteckte Sargan und will sie verheiraten.

Die Rache der Frauen

Eine seltene ritterliche Tat, denn ein Opfer sexueller Gewalt kann kaum je auf Mitgefühl hoffen. Eine junge Frau hat im Nordkaukasus traditionsgemäss am wenigsten Rechte. Wurde sie missbraucht, hält sie die Gesellschaft in einem Abwehrreflex für schuldig. Zwar müssten ihre männlichen Verwandten, der Blutrache folgend, die Täter umbringen, doch diese sind zu mächtig. Es ist bequemer, die Schande von der Familie zu bannen, indem man die Wehrlose tötet.

Als Vorbild für weibliches Verhalten gilt der kollektive Selbstmord aus der Zeit des Kaukasischen Krieges (1816 – 1826), als der russische General Jermolow im zaristischen Auftrag die nordkaukasischen Stämme unterwarf. Das Dorf Dadi-Jurt wurde am 15. September 1819 mit Artillerie beschossen und danach verbrannt; die sich wehrenden Bewohner wurden getötet und 46 junge Frauen erbeutet. Beim Überqueren des Flusses Terek stürzten sich die Geraubten in die Fluten und rissen die Besatzer mit in den Tod.

Sind das die Urahninnen der heutigen Selbstmordattentäterinnen? Diese Parallele kann der dem Kreml hörige Kadyrow nicht ziehen, der den dritten Septembersonntag zum «Tag der tschetschenischen Frau» erklärt hat. Dieses Jahr wurde zum zweiten Mal an jene verzweifelte weibliche Heroik erinnert. Würden sich Kadyrows Ehefrauen und zahlreiche Mätressen die Todesmutigen aus Dadi-Jurt wirklich zum Vorbild nehmen, könnte es für den Präsidenten gefährlich werden. Doch vorläufig dürfen sie ab und zu aus dem goldenen Käfig ausschwirren und streng bewacht dem Konsum frönen. Dann wird die Einkaufsstrasse von Grosny gesperrt, und kadyrowzy kommen schwer bewaffnet zum Einsatz.

Sippenhaftung

Die nordkaukasische Kultur der sexuellen Scham verhindert nicht, dass Frauen schamlos zur Triebbefriedigung des Mannes benutzt werden, aber sie verhindert, dass das Verschwinden von Frauen dokumentiert und publik gemacht, und erst recht, dass es geahndet wird. Nachdem letztes Jahr die Schwestern Khischan und Sulikhan* verschwunden waren, wagte ihre Familie nicht, sie polizeilich suchen zu lassen. Das wäre der Familienehre abträglich gewesen, zudem könnten die Behörden Khischan und Sulikhan beschuldigen, sich den Kämpfern in den Bergen angeschlossen zu haben. Im «befriedeten Tschetschenien» gilt im «Kampf gegen Terrorismus» die Sippenhaftung. Die Familienangehörigen von jemandem, der auf den Jihad gegen Moskau schwört, werden gefoltert, und ihr Haus wird gesprengt. Khischan und Sulikhan wurden zuletzt gesehen, als sie in ihrem Dorf in einen Wagen stiegen. Hofften sie, bei Moskaus langbärtigen Widersachern ein besseres Schicksal zu finden – etwa als schwarze Witwen? Oder wurden sie zu Sklavinnen von Kadyrows Entourage? In den abgeriegelten Stadtteilen von Grosny stehen Paläste, in denen Frauenhände gebraucht werden.

Verlockende Aussichten für junge Frauen gibt es nicht. In der Nachkriegszeit hat sich die Ausbildung verschlechtert, Zugang zu einer höheren Schule haben nur jene, die sich das Schmieren leisten können, und Berufsmöglichkeiten für Frauen sind bei einer geschätzten Arbeitslosenquote von gegen achtzig Prozent gering. Und ob eine Frau studieren oder arbeiten darf, darüber entscheiden ihre männlichen Verwandten. Die Gesellschaft kennt nur eine Lösung: Heirate so bald wie möglich und egal wen. Die Heirat gilt als altbewährter Schutz. Nachdem Kadyrow Asijat* lange angeschaut hatte, beeilte sie sich, den Nächstbesten zu heiraten. Ist eine Frau verheiratet, gehört sie einem Mann und ist für andere Männer uninteressant. Je jünger sie vom Vater zur Sippe des Ehemannes wechselt, umso früher ist ihre Familie die Angst um die Familienehre los. Zunehmend müssen schon 14- und 15-Jährige das vertraute Elternhaus verlassen.

Der traditionelle Brautraub ist populär geworden. Ilijas* hat ein Auge auf Seda* geworfen, er organisiert seine Freunde und männlichen Verwandten, sie lauern der Nichtsahnenden auf, zerren sie in den Wagen und bringen sie in Ilijas' Haus, wo sie einer Gehirnwäsche unterzogen wird: Es sei für sie und ihre Familie besser, sich zu fügen. Seda, die eine typische Mädchenerziehung zur Bescheidenheit genossen hat, fühlt sich gar geschmeichelt, dass sie es wert ist, geraubt zu werden. Kommt dann ihre aufgebrachte Familie, um die Tochter zurückzuholen, erklärt ihnen Seda, dass der Raub ihr innerster Wunsch gewesen sei. Die Familie kann sich weigern, «dem innersten Wunsch» nachzugeben, doch man wird Seda jederzeit vorwerfen können: Du wurdest geraubt, ohne zu heiraten. Sie gilt als angetastet, verbraucht. Die Gefahr des Raubes bindet die Frau fester ans Haus, was der patriarchalen Gesellschaft nur recht ist.

Die Menschenrechtlerin und ehemalige Dozentin an der Universität in Grosny Lipchan Basajewa gründete 2002 das Frauenzentrum «Frauenwürde» in Grosny, ursprünglich gedacht als Frauenhaus für Opfer der Vergewaltigung durch russische Militärs. Die von der deutschen Frauenorganisation Amica finanzierte «Frauenwürde» bietet zurzeit allen Frauen nebst gynäkologischer Behandlung auch psychologische und juristische Unterstützung an. In einer vom Frauenzentrum durchgeführten Befragung gaben unter 200 Befragten fast 90 Frauen an, zum Zweck der Heirat gewaltsam geraubt worden zu sein. Der Brautraub war selbst in der Sowjetzeit üblich, doch der Bräutigam musste sich das Einverständnis des Mädchens einholen. In der verrohten Nachkriegszeit wird dieses oft erzwungen. Die meisten befragten Frauen fanden es unzumutbar, das Leben mit einem unbekannten Mann verbringen zu müssen. Erstaunlicherweise hat Kadyrow im Oktober den Brautraub heftig kritisiert und einen Ukas zu seiner Eindämmung erlassen, gemäss dem der Vater des Brauträubers dem Vater der Geraubten eine Busse in Höhe von einer Million Rubel (rund 32 000 Franken) zahlen muss und der Geistliche, der den Vater der Braut zu einer Ehe drängt, seines Amtes enthoben werden soll. Dass die Bräute des Präsidenten ihr Schicksal «freiwillig» gewählt haben, wird man weiterhin nicht anzweifeln dürfen.

Bald nach dem Hochzeitsritual, bei dem die Braut nicht mitfeiert, sondern stumm in langem Weiss in der Ecke steht, sollte sich ihr Bauch fortan wölben, sonst gilt ihr Mann als Versager. Jahr für Jahr wird der pralle weibliche Bauch die Männlichkeit unter Beweis stellen. Die Kinder gehören dementsprechend dem väterlichen Klan an. Zeigt sich die Schwiegertochter nicht gefügig, schuftet sie nicht von morgens bis in die Nacht, fragt sie nicht um Erlaubnis, das Haus zu verlassen, hält sie die häusliche Gewalt nicht aus, kann sie geschieden werden und kehrt zurück in ihr Elternhaus. Sie verliert die Kinder, die sie, falls die väterliche Sippe es so bestimmt, nicht einmal mehr sehen darf. Ihr Bauch gehörte nie ihr. Ihr Herz auch nicht. Erben wird sie nichts, erbberechtigt sind nur Söhne. Eine Witwe, und wie viele gibt es davon nach zwei grausamen Kolonialkriegen, muss sich entscheiden: Entweder lebe ich mit meinen Kindern oder mit einem neuen Mann. Heiratet sie, zieht sie alleine ins Haus des Mannes ein.

«Frauenwürde» unterstützt geschiedene und verwitwete Frauen mit juristischer Hilfe in ihrem Kampf um die Kinder. In Tschetschenien gilt die russische Verfassung, nach der die Mutter ihre Kinder fast automatisch behält. Einen Prozess gegen den geschiedenen Mann oder seinen Klan anzustreben, bedeutet allerdings, gegen das mittelalterliche Gewohnheitsrecht adat zu verstossen. Spricht das Gericht die Kinder der Mutter zu, kann der Älteste des väterlichen Klans gegenüber dem Ältesten des mütterlichen Klans argumentieren: Ihr habt uns unsere Kinder weggenommen und Schande über uns gebracht. Wir werden uns dafür rächen, wenn ihr es nicht wiedergutmacht. Darauf liefert der mütterliche Klan die Kinder ab, denn adat steht über der Verfassung. Adat ist frauenfeindlicher als das islamische Recht Scharia, nach dem es meist die geschiedene Frau ist, die ihre Kinder bis zur Pubertät erzieht.

Wenig geeignete Männer

Das Recht auf Liebe, das Recht auf die eigene Familie und das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben sind für eine Frau im Nordkaukasus kaum miteinander zu vereinbaren. Eine Tschetschenin sollte nur einen Tschetschenen heiraten, höchstens einen Inguschen, doch für einen anspruchsvollen weiblichen Geschmack gibt es kaum geeignete Kandidaten. Viele junge Männer sind tot oder emigriert, und der Rest hat in den zerbombten Schulen und überfüllten Flüchtlingszelten in Inguschetien anstelle von Bildung erfahren, dass rohe Gewalt normal ist.

Der Gattinnenmord, schrieb während des zweiten Tschetschenienfeldzuges die russische Zeitung «Kommersant», habe sich in Russland wegen der Tschetschenienveteranen vervierfacht. Die kriegstraumatisierten Rückkehrer werden nicht therapiert, sie reagieren auf den kleinsten Widerspruch ihrer Nächsten enthemmt. Auch in Tschetschenien haben die Kriegsgewalt und die systematische Folter in den russischen «Filtrationslagern» (etwa jeder dritte tschetschenische Mann war dort inhaftiert) Exzesse entfesselt, privat und politisch. Das tschetschenische Fernsehen gibt die Landesmoral vor: Einmal betet Kadyrow, ein andermal tritt er höhnisch die Leichname vermeintlicher islamistischer Kämpfer. Sodann veranstaltet der Landesvater den nächsten Schönheitswettbewerb und ruht sich in den Armen der neuen Miss Tschetschenien von seinem schweren Amt aus.

Lynchjustiz

Ende 2008 wurden in Tschetschenien sieben Frauen zwischen 18 und 30 mit Kopfschüssen hingerichtet. Auf einer Videoszene sieht man zwei von ihnen und hört Männerstimmen auf Tschetschenisch: Du hast es mit mir getrieben. Danach werden die Frauen vor laufender Kamera erschossen. Ob der ihnen gemachte Vorwurf der Prostitution stimmt, wurde nicht abgeklärt. Wurden sie vergewaltigt? Wem sind sie lästig geworden? Das Ziel der Abschreckung ist erreicht, und die Mörder bleiben unbehelligt. Kadyrows Menschenrechtsbeauftragter Nurdi Nuchadschiew erklärte dazu, dass für Frauen der Bergvölker ein Verhaltenskodex gelte, und männliche Verwandte, die sich durch das Verhalten der Frauen beleidigt fühlten, übten eben Lynchjustiz. Dass Familienangehörige die Morde verübt hätten, sei unwahrscheinlich, sagen Menschenrechtlerinnen, denn die sieben Frauen sind innerhalb von Tagen an verschiedenen Orten auf die gleiche Art hingerichtet worden.

Zu Kadyrows Disziplinierungsmassnahmen gehört der Kopftuchzwang, lange Röcke und Ärmel bis zum Handgelenk, in Ämtern, Schulen, in jedem öffentlichen Gebäude, entgegen der tschetschenischen Tradition, nach der nur die Familie für das Erscheinungsbild der Frau zuständig ist, und dieses war ziemlich freizügig. In diesem Sommer haben kadyrowzy Frauen, die sich ohne ein Kopftuch auf die Strasse von Grosny wagten, Farbpatronen in die Haare geschossen. Die Farbe ist nicht auswaschbar, die Haarpracht muss fallen. Eine Frau wurde ins Auge getroffen und erblindete. Gemäss adat sind Frauenhaare für fremde Männer unantastbar. Doch unantastbar ist in Kadyrows Reich nichts und niemand mehr, ausser er selbst. Eine archaische Gesellschaft, die die Autonomie der Klans stets hochhielt, unterwirft sich einem einzigen Mann – Putins Mann fürs Grobe. Der tschetschenische Mann ist erniedrigt und rächt sich an der Frau. Das ist ungefährlich.

Gebändigte Menschenrechtlerinnen

Tschetschenische Menschenrechtlerinnen werden zur Zusammenarbeit mit gegenüber dem Kreml devoten Behörden gezwungen. Der Westen ist zwanzig Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion als Feind reaktiviert worden. Das russische FSB, das in Grosny mit dem tschetschenischen FSB gemeinsam gegen die Menschenrechtlerinnen vorgeht, bezeichnet diese als Spioninnen des Westens, beschattet und bedroht sie. Eine wurde kürzlich in ihrer Wohnung zusammengeschlagen. Also emigrieren sie oder übernachten vorsorglich jede Nacht anderswo – kadyrowzy tauchen gerne im Morgengrauen auf. Spätestens nach den letztjährigen Morden an den Menschenrechtlerinnen Natalja Estemirowa und Sarema Sadulajewa sind Aktivistinnen vorgewarnt. Der jungen Sadulajewa wurden nicht nur Knochen gebrochen, sondern die im vierten Monat Schwangere wurde vor ihrer Hinrichtung vergewaltigt – ihre Sippe ist auch postum entehrt.

Der Tod alleine erschreckt nicht mehr, er ist allzu gewöhnlich geworden. Getötete «islamistische Terroristen» werden im Fernsehen ohne Kopf als Trophäen präsentiert. Die Mörder von Sadulajewa waren nicht einmal maskiert, so sicher sind sie, dass die Straflosigkeit ewig währt. Obwohl der russische Staatspräsident Dmitri Medwedew versprach, die Täter zur Verantwortung zu ziehen, ist nichts geschehen.

Kadyrow zelebriert die Frauenmoral vor zweihundert Jahren: lieber tot als entehrt. Die Märtyrerinnen aus Dadi-Jurt hätten die traditionell aktive Rolle der Tschetschenin im Dienst am Vaterland wahrgenommen. Offiziell preist man die schöne, freie, aufrecht gehende Tschetschenin an, die willensstark und leidensfähig ist, dem Mann ebenbürtig, die für sich selbst einsteht und eine starke Persönlichkeit hat. Den gesellschaftlich aktiven Frauen, die diesem tradierten Bild entsprechen, möchte das Regime allerdings nur eine Aktivität zugestehen – den Vollzug des Selbstmords. Die Frauen gelten nebst den Islamisten als die grösste Gefahr für die von Putin und seinem Ziehsohn Kadyrow viel gepriesene Stabilität in Grosny, dieser nekrophilen Schutzzone für Mörder.

* Die Namen im Artikel wurden aus Rücksicht auf die Betroffenen und ihre Familien geändert.

Irena Brežná ist Publizistin und Schriftstellerin. Sie war Kriegsberichterstatterin in Tschetschenien und unterstützt dortige Menschenrechtlerinnen. 2008 erschien bei der Edition Ebersbach der Roman «Die beste aller Welten».

nzz.ch/nachrichten