09.11.2010

Russland: Islam in Russland

Fleißig, kinderlieb und nur ganz selten blau

Russland: Islam in Russland

Fleißig, kinderlieb und nur ganz selten blau

 

Russland setzt auf einen staatstreuen Islam, um seinem Volk wieder moralische Prinzipien und Bereitschaft zu Opfer und Verzicht einzuimpfen. Doch die Realität sieht anders aus.

Von Kerstin Holm, Moskau

Die Ergebnisse der Volkszählung, die Ende Oktober in Russland stattfand, werden erst in drei Jahren ganz zugänglich sein, und die Gretchenfrage nach der Religion blieb in den Fragebögen ungestellt. Die Gesellschaft soll nicht zu genau wissen, wie schnell sie schrumpft und wie sich das Zahlenverhältnis zwischen latent oder aktiv christlichen Russen und Muslimen verschiebt. Die Machthaber kultivieren das Bild vom harmonischen Konzert traditioneller Christen, Muslime, Juden und Buddhisten, wobei die Moskauer Patriarchatskirche, die Ersteren vertritt, klar den Ton angibt und eine ideologische Führungsrolle spielen soll.

Das Moskauer Patriarchat betrachtet indes den staatstreuen Islam als Hauptverbündeten bei seinem Vorhaben, dem zynisch gewordenen russischen Staatsvolk wieder moralische Grundsätze und Bereitschaft zu Opfer und Verzicht einzuimpfen. „In Fragen der Ethik stimmen wir mit den Muslimen völlig überein“, sagt der Priester Alexander Wasjutin, der im Außenamt des Patriarchats für den interkonfessionellen Dialog zuständig ist, „nur glauben wir, im Unterschied zu ihnen, an Christus.“

Anschläge gehören zum traurigen Alltag in Makhachkala, Hauptstadt der nordkaukasischen Provinz DagestanAnschläge gehören zum traurigen Alltag in Makhachkala, Hauptstadt der nordkaukasischen Provinz Dagestan

Der abgeklärte russische Islam, der von Russen selbst wie auch westlichen Politikern als europäisch und zukunftsweisend gepriesen wird, wurzelt in den tatarischen und baschkirischen Gebieten um Kasan, Ufa und Orenburg. Er ist historisch geprägt von der nationalistischen Reformbewegung des Dschadidismus im neunzehnten Jahrhundert. Angestoßen von muslimischen Wissenschaftlern, die im Ausland gearbeitet hatten und wollten, dass ihre Heimat den Entwicklungsrückstand gegenüber dem Westen aufholt, verlangten damals tatarische und baschkirische Gelehrte von ihren Landsleuten, sich zu bilden und selbständig den Koran zu studieren. Sogar die muslimische Geschichte sollten sie kritisch erforschen, was der Koran ja nicht verbietet.

Neues Zentrum des zivilisierten Islams

Heute ist das Zentrum des zivilisierten Islams in Russland die Universitätsstadt Kasan, achthundert Kilometer östlich von Moskau. In der dortigen Kremlfestung symbolisieren die altehrwürdige Kathedrale und die daneben mit Geldern aus der gesamten islamischen Welt erbaute neue Glitzermoschee das friedliche Miteinander der Religionen. Die Tataren, die in ihrer Hauptstadt gut die Hälfte der Bevölkerung ausmachen (mit deutlich steigender Tendenz), gelten als fleißig, familienverbunden und im russischen Vergleich weniger zu Alkoholmissbrauch und Gewalt neigend. Die alljährliche Gedenkdemonstration für die bei der moskowitischen Eroberung durch Zar Iwan den Schrecklichen gefallenen Krieger vor 458 Jahren am 15. Oktober verlief wie üblich ohne Zwischenfälle.

Hier treten nicht wenige Russen, vom moralischen Verfall vieler Landsleute frustriert, zum Islam über. Tatarische Imame empfehlen ihren Glauben als segensreich für ganz Russland - und auch für Europa, wobei die Islamisierung des Kontinents unbedingt friedlich erfolgen soll.

Wachsender Anteil muslimischer Russen

Nach Russland, zumal in seine Städte, ziehen außerdem muslimische Migranten aus den ehemaligen Sowjetrepubliken Zentralasiens, die Häuser bauen, Straßen reparieren, Höfe fegen, Gräber ausheben. Die Tadschiken, Kirgisen, Usbeken, ohne die das Land nicht funktionieren könnte, werden als fleißig und relativ wenig alkoholgefährdet geschätzt. Den muslimischen Bevölkerungsanteil Moskaus schätzt man auf gut zwei Millionen, die zu je einem Drittel aus Mittelasien, Aserbaidschan und dem Nordkaukasus, also aus Tschetschenien, Inguschien und Dagestan, stammen.

Das entspricht etwa einem Fünftel der Moskauer. Ihnen stehen in der Hauptstadt aber nur vier Moscheen zur Verfügung, also eine auf eine halbe Million Menschen. Zu wichtigen Festen wie dem Ende des Fastenmonats, Urasa-Bayram, der im September begangen wurde, strömen bei der Hauptmoschee an der Wypolsowgasse Zehntausende Gläubige zusammen. Mangels Platz im Innern lassen sie sich dann auf den umliegenden Straßen zum Gebet nieder und legen den Verkehr lahm.

Widerstand gegen Moscheebau in Moskau

Die 28-jährige Maryam Sharipov aus Dagestan verübte im April 2010 ein Selbstmordattentat in der Moskauer U-BahnDie 28-jährige Maryam Sharipov aus Dagestan verübte im April 2010 ein Selbstmordattentat in der Moskauer U-Bahn

Neubaupläne treffen bei den Moskauern auf Widerstand. Die Bewohner der Vorstadt Tekstilschtschiki kämpfen gegen den Beschluss der Behörden, auf ihrem Parkgelände eine Moschee zu errichten. Blogs wettern gegen das Hammelschlachten zu Urasa-Bayram auf offener Straße und warnen, die russische Hauptstadt könne sich in ein „Moskwabad“ verwandeln.

Eine Wortführerin dieser Skepsis ist die radikale russische Islamkritikerin Jelena Tschudinowa, die in ihrem Roman „Die Moschee der Notre Dame von Paris“ die antiutopische Vision eines islamisierten Europas ausgemalt hat (F.A.Z. vom 21. Februar 2006). Frau Tschudinowa fordert, muslimische Einwanderer dürften nur in so kleinen Gruppen ins Land gelassen werden, dass sie gar nicht anders könnten, als sich zu assimilieren. Denn europäische Menschen seien viel atomisierter als die klanorientierten Muslime. Weshalb bei einem freien Wettbewerb der Kulturen jene stets im Nachteil wären. Heute billige Arbeitskräfte würden die Gemeinschaft morgen teuer zu stehen kommen, sagt die kämpferische Christin: Spätestens deren Nachkommen dürften vor allem den Steuerzahler belasten und mit islamistischen Terroristen sympathisieren.

Gotteskrieger im Nordkaukasus

Russlands Schicksalsregion, in der tatsächlich Milliarden verschwinden und der islamistische Terror blüht, ist der Nordkaukasus. Fast täglich werden in Dagestan und Inguschien Anschläge verübt, vor allem auf die wegen ihrer Käuflichkeit verhassten Milizionäre und Richter. Gotteskrieger morden aber auch in den benachbarten südrussischen Landkreisen Stawropol und Astrachan, weshalb viele Russen von dort wegziehen wollen. Das muslimische, aber moskautreue Unterdrückungsregime des tschetschenischen Republikchefs Ramsan Kadyrow wird mit gewaltigen Zuschüssen aus dem russischen Staatshaushalt alimentiert. Kadyrow spielt sich als Regionalherrscher auf. In seiner Republik wurden mehrfach Menschenrechtler umgebracht. Die Anschläge islamistischer Oppositioneller reißen nicht ab.

Im Kaukasus ist die Korruption doppelt so verbreitet wie im Rest von Russland. Investiert aber wird auch unter Alexander Chloponin, dem eigens dafür neu eingesetzten Präsidentenvertreter für die Region, so gut wie nichts. Bezeichnend, dass der Kulturkanal des Staatsfernsehens im täglichen Wetterbericht für alle Landesteile stellvertretend für den Nordkaukasus nur den Kurort Mineralnyje wody (Mineralwasser) nennt. An die sprudelnde Problemquelle in der Region erinnert man so selten wie nur möglich.

Radikal-muslimische Tendenzen in Tschetschenien

Obwohl im Nordkaukasus theoretisch das russische Recht gilt, werden Erb- und Familienstreitigkeiten vom Kadi gemäß der Scharia beigelegt. Spirituosen, die theoretisch frühmorgens verkauft werden dürften, sind de facto gar nicht erhältlich, weil die Händler fürchten müssen, dann von der Gemeinde geschnitten oder gar überfallen zu werden. In Tschetscheniens öffentlichen Gebäuden, beispielsweise an der Universität, herrscht Kopftuchzwang, und mittlerweile ist auch die Ganzverschleierung keine Seltenheit mehr. Frauen, die sich „unislamisch“ zurechtmachen, müssen zumindest damit rechnen, angepöbelt oder aus Farbpistolen beschossen zu werden.

Tschetscheniens Oberhaupt Kadyrow hat bereits mitgeteilt, die Scharia sei für ihn verbindlicher als russische Gesetze. Doch auch der Moskauer Publizist Orchan Dschemal plädiert dafür, in mehrheitlich muslimisch bevölkerten Regionen Russlands islamisches Recht einzuführen. Als Jelena Tschudinowa jetzt bei einer Debatte mit Dschemal bekannte, sie sei entschieden dagegen, Frauen steinigen oder Dieben die Hände abhacken zu lassen, bezichtigte ihr Gesprächspartner sie der Sympathie für die Sünde: Frau Tschudinowa wolle offenbar Dieben und Ehebrecherinnen die verdienten Strafen ersparen.

Text: F.A.Z.