10.11.2010

Irak: Geistliche raten Christen zur Flucht

Von Ulrich Leidholdt

Irak: Geistliche raten Christen zur Flucht

 

Von Ulrich Leidholdt

 

Erneut sind im Irak Christen das Ziel von Bombenanschlägen geworden. In der Hauptstadt Bagdad wurden nach Polizeiangaben mindestens drei Menschen getötet und viele verletzt. Mehrere Sprengsätze explodierten in Stadtbezirken, die überwiegend von der christlichen Minderheit bewohnt werden. Bereits am Abend zuvor war der Westen der Stadt von einer Anschlagsserie erschüttert worden. 

Erst gestern hatte Regierungschef Nuri al-Maliki die Basilika der chaldäischen Christen in Bagdad besucht, die vor zehn Tagen Schauplatz einer blutigen Geiselnahme wurde. Trotz der höchsten Zahl christlicher Opfer beschwor der amtierende Premier die Gemeinden, dem Irak nicht den Rücken zu kehren. Doch selbst Geistliche wie Erzbischof Athanasios Dawood in Bagdad raten inzwischen Gläubigen, sie sollten das Land verlassen, sonst würde einer nach dem anderen getötet - eine deutliche Abkehr von der bisherigen Linie Geistlicher, die trotz aller Gewalt, ihre Gemeinden zum Bleiben aufforderten.

Die gezielten Attacken heute und weitere bereits gestern Abend verängstigen irakische Christen weiter. 14 selbstgebaute Bomben explodierten in christlichen Wohnvierteln Bagdads am Morgen, hinzu kamen Granatangriffe. Es gab Tote und Verletzte.

Auf der Flucht ins Ausland

Solche Attacken häufen sich. Die Hauptstadt hat nach Schätzungen bereits zwei Drittel ihrer Gemeindemitglieder verloren. Sie flohen ins Ausland oder, wie Student Nawar, ins sichere Kurdengebiet: "In Vierteln wie Dora, wo heute Bomben explodierten, werden Leute gezwungen zu gehen, weil sie Christen sind." Auch Delon aus dem extrem gefährlichen Mossul musste von dort fliehen: "Meine ganze Familie ist von dort weg. Bis heute ist die Lage da gerade für Christen ganz übel. Ich hab keine Ahung, warum die das machen. 

Iraks Regierung kritisiert den Exodus, hält ihn - wie bisher auch Geistliche - für Abwerbung aus dem Westen. Frankreich etwa hat 34 Verletzte der Kirchen-Geiselnahme ausgeflogen und will weitere Christen aufnehmen. Von den 2500 irakischen Flüchtlingen in Deutschland sind die meisten Christen.

Al Kaida erklärt Christen zu legitimen Zielen 

Drohungen des irakischen Arms der Al Kaida werden einen Sogeffekt haben. Die Terrorgruppe erklärt Christen zu legitimen Zielen. Die Extremisten begründen das mit angeblichen Vorgängen in Ägypten: Dort würden Frauen in Kirchen festgehalten, weil sie zum Islam konvertiert seien. Für Al Kaida müssen das nun Christen im Irak büßen.

Zerstörtes Haus nach einem Anschlag in Bagdad (Foto: dpa) Großansicht des Bildes [Bildunterschrift: Bewohner suchen nach den Anschlägen nach letzten Habseligkeiten.]

Für Pfarrer Sabri al Maqdissi von der Mar-Joseph-Gemeinde im kurdischen Erbil stellt der Exodus einen Riesenverlust dar. Die Zahl der Christen im Irak hat sich seit dem Sturz Saddams auf etwa 500.000 halbiert. "In Bagdad sind es wohl 200.000 oder noch weniger - eine anhaltende Emigration", berichtet Pfarrer al Maqdissi, "darum muss sich die Regierung kümmern. Es sind ja Menschen mit besonderen Fähigkeiten, in die das Land viel investiert hat, das ist auch ein wirtschaftlicher Verlust. Nicht nur Christen haben Probleme, auch andere Iraker werden bedroht. Aber Christen haben weniger Schutz, keiner fühlt sich für sie verantwortlich, auch kein anderes Land."

Terroristen nutzen Regierungsschwäche aus

Von der Regierung ist in Sachen Sicherheit wenig zu erwarten - zur Zeit amtiert lediglich die alte. Iraks Politiker können sich nach der Wahl seit nunmehr acht Monaten nicht auf eine Koalition einigen. Das wird zur Steilvorlage für Terroristen, die überall zuschlagen, selbst im Zentrum der Macht, in Bagdad. Nicht nur Christen zahlen dafür, auch Muslime sterben in großer Zahl bei religiös-motivierten Anschlägen - wie zuletzt Anfang vergangener Woche.

ARD-Hörfunkstudio Amman aus www.tagesschau.de/ausland/irak714.html