12.10.2010

Islam: Muslime konvertieren heimlich

Wenn Christen zum Islam übertreten, so stehen sie meist offen zu ihrem neuen Glauben. Muslime aber, die Christen werden, verheimlichen ihren Übertritt – die Scharia sieht für Abtrünnige die Todesstrafe vor.

Hassan Omar hat sein altes Leben satt. Es gab Zeiten, da der heute 20-Jährige täglich Kokain, Heroin und bezahlten Sex konsumierte. Das Geld dafür stammte aus Raubüberfällen. „Im Zürcher Langstrassenquartier wartete ich mit meinen Kumpels jeweils vor einem Puff, bis ein Freier kam“, erzählt Hassan. Dann wurde der Mann niedergeschlagen und ausgeraubt. Irgendwann kam die Polizei Hassan auf die Schliche. Heute verbüßt der Somalier, der seit seiner Kindheit in der Schweiz lebt, eine mehrjährige Haftstrafe, die er aufgrund seines jugendlichen Alters in einer Arbeitserziehungsanstalt im Kanton Zürich absitzt. „Damals habe ich mir keine Gedanken über die Opfer gemacht“, fährt er fort. Es sei ihm alles egal gewesen, das Leben habe er als sinnlos empfunden. Mittlerweile hat sich dies geändert: Er hat zum Glauben gefunden. „Seit ich Jesus für mich entdeckt habe, bin ich ein anderer Mensch“, sagt er mit leuchtenden Augen. Deshalb will er sich schnellstmöglich taufen lassen. Hassan Omar, gebürtiger Muslim, will noch diesen Sommer zum Christentum konvertieren. Während in Westeuropa jährlich Tausende vom Christentum zum Islam übertreten, gehen nur wenige den umgekehrten Weg. Für die Schweiz existieren keine Zahlen; in Deutschland, wo 2005 rund 1150 Menschen zum Islam konvertierten, schätzt man, dass ungefähr zwei Prozent der 3500 Erwachsenen, die sich pro Jahr taufen lassen, Muslime sind. Dieses Ungleichgewicht hat mitunter einen Grund: Der Übertritt eines Muslims zum Christentum ist gefährlich.

Die Sünde der Apostaten

Bereits Prophet Mohammed soll die Tötung von Abtrünnigen angeordnet haben. In einem Hadith, der schriftlichen Überlieferung seiner Worte, wird er mit dem Satz zitiert: „Wer seine Religion wechselt, den tötet“. Daher wird in der Scharia, der islamischen Rechtsordnung, der Tod für den Abfall vom Glauben – die Apostasie – gefordert. In Ländern wie Iran, Pakistan oder Saudiarabien besteht die Todesstrafe für Apostaten. Wie aus einem Bericht von Amnesty International hervorgeht, wurde im Jahr 2000 ein konvertierter Christ in Pakistan von einem Nachbarn wegen Blasphemie angezeigt. Er wurde verhaftet und zum Tod verurteilt. Da der Übertritt zu einem anderen Glauben von der Familie und dem gesellschaftlichen Umfeld als Schande aufgefasst wird, verlieren Konvertiten ihr Leben öfter durch privates Eingreifen als durch den Staat: Amnesty International erwähnt den Mord an einem 18-jährigen Mädchen aus der pakistanischen Provinz Punjab, das von seinem Bruder erschossen wurde, weil es sich zum Christentum bekannt hatte. In Europa, wo freie Religionswahl ein Menschenrecht ist, sind tätliche Angriffe selten. Muslime, die dem Islam den Rücken kehren, werden aber häufig von der eigenen Familie unter Druck gesetzt, bedroht und tyrannisiert.

Aus diesem Grund hat Hassan Omar weder seiner Mutter, einer strenggläubigen Muslimin, noch seinen übrigen Verwandten von seinen christlichen Plänen erzählt. „Sie würden mich für verrückt halten“, sagt er. Als Kind sei ihm eingetrichtert worden, dass das Christentum des Teufels sei. „Einen Übertritt in eine andere Religion ist für meine Verwandtschaft das Schlimmste“. Deshalb sei es besser, wenn niemand von der Taufe erfahre. „Keine Ahnung, wozu meine Verwandten fähig wären“, meint er achselzuckend. Einigen Freunden hat er von dem Unterfangen erzählt. Einer habe danach gesagt, er wolle nichts mehr mit ihm zu tun haben. Dennoch bleibt Hassans Wille ungebrochen: „Seit Jesus in mein Leben getreten ist, weiß ich, dass ich auf dem richtigen Weg bin“.

Ayse Akyün will wie Hassan Omar unter allen Umständen anonym bleiben. Sie wisse zwar haargenau, dass das Christentum für sie das Beste sei und dies eigentlich die ganze Welt mitkriegen dürfe. Doch die gelernte Floristin mit türkischen Wurzeln hat Angst, wird in den Nächten von Albträumen heimgesucht. Weder ihre Eltern noch ihre Verwandten dürfen von ihrer Konversion erfahren: Diesen Frühling will sich die 21-jährige Luzernerin taufen lassen. „Mein Vater ist zwar kein streng praktizierender Muslim“, erzählt Ayse. „Doch er hat ein ausgeprägtes Ehrverständnis“. Für ihn wäre es eine Schande, wenn er erführe, dass seine Tochter sich taufen lässt. Ayse schließt nicht einmal aus, dass er davor zurückschrecken würde, sie zu töten. „Ist das nicht schlimm?“, fragt sie. „Ich lebe in einem Land, wo ich eigentlich glauben darf, was ich möchte. Und trotzdem muss ich meine wahren Gefühle verstecken“. Dass sie vor ihrer Familie nicht offen zu ihrer Religion stehen kann, bedrückt sie. Doch gebe ihr der Glaube Kraft, das Doppelleben durchzustehen.

Umgekehrt ist es anders. Während Muslime, die zu Christen wurden, ihre Religion meist nur heimlich praktizieren, sprechen konvertierte Muslime offen über ihre „Erleuchtung“, wie es der 22-jährige Nicolas Blancho nennt, der kürzlich die Demonstration gegen die Mohammed-Karikaturen auf dem Berner Bundesplatz organisiert hat. Auch sieht man ihm seine Religionsangehörigkeit auf den ersten Blick an: Nicolas Blancho trägt Bart, einen weißen Gelbab – eine lange Baumwolltunika – und eine traditionelle Kopfbedeckung. Sein Übertritt zum Islam erfolgte vor sechs Jahren. „Nur der Islam sagt die Wahrheit“, glaubt der Bieler, der eine äußerst fundamentalistische Auslegung des Korans vertritt. Deshalb sei die islamische Religion das Beste für alle. Dass sich Muslime vom Islam ab- und zum Christentum hinwenden, findet Blancho zwar „übel“ und „problematisch“. Aber fürchten müssten sie sich in der Schweiz nicht: „Hier gelten ja demokratische Gesetze“.

Saïda Keller-Messahli, Präsidentin des Forums für einen fortschrittlichen Islam, weist darauf hin, dass für Extremisten demokratische Gesetze wenig zählen: «Im Islam ist die Apostasie strikt verboten; sie ist größte Blasphemie“, sagt die liberal denkende Muslimin. Deshalb seien Konversionen selten. Für die Mehrheit der Muslime sei es unvorstellbar, sich vom Islam abzuwenden. Wer es trotzdem wage, der müsse sich auch in Europa vor Übergriffen in Acht nehmen. Eine ähnliche Auffassung vertritt der Lausanner Weihbischof Pierre Bürcher, Präsident des Arbeitskreises Islam der Schweizer Bischofskonferenz: „Wenn in der Schweiz ein Muslim Christ werden möchte, weisen wir ihn ausdrücklich auf die negativen Konsequenzen hin, die ein Übertritt haben kann. Er könnte Gefahr laufen, von der muslimischen Gemeinde oder der eigenen Familie bedroht zu werden“. Bürcher hält auch fest, dass die katholische Kirche dem Islam großen Respekt zolle und keine aktive Missionierung betreibe.

Kein Weg zurück: Auch Parvaneh Nafisi, gebürtige Iranerin, ist zum Christentum konvertiert. Vor zwei Jahren hat sich die 28-jährige Studentin in einer reformierten Kirchgemeinde im Kanton Bern taufen lassen. „Die Kirche ist der einzige Ort, wo ich zur Ruhe komme“, sagt sie. Noch heute weiß keiner ihrer Verwandten davon. „Die würden denken, ich sei übergeschnappt“. Sie verheimlicht den Übertritt aus einem weiteren Grund: Sie möchte zurück nach Iran reisen, um ihre Mutter zu besuchen. Bekäme die iranische Regierung Wind von der Konversion, müsste sie um Leib und Leben fürchten. Das bestätigt Brigitte Hauser-Süess, Informationschefin des Bundesamts für Migration. „Vor allem Flüchtlinge aus Iran und Pakistan sind in Gefahr, wenn sie eine andere Religion annehmen“, sagt sie. Werde die Apostasie bekannt, könnten diese Menschen nicht mehr in ihr Herkunftsland zurückgeschickt werden. „Deshalb kommt es auch vor, dass sich Flüchtlinge in der Schweiz nicht nur aus Überzeugung, sondern auch aus politischen Gründen taufen lassen“. Für Omar ist die Taufe keine Formsache, sondern ein Akt der „inneren Überzeugung“. Hassan bereut seine kriminelle Vergangenheit und will „mit Hilfe Jesus’“ ein neues Leben anfangen. „Jesus wird dafür sorgen, dass ich nicht mein ganzes Leben im Knast verbringen werde“, glaubt er.

Quelle: www.nzz.ch – NZZ am Sonntag und wordpress