31.10.2010

Arabische Länder: Immer mehr Christen leiden unter dem Terror

Der Orient erlebe eine regelrechte „christliche Entvölkerung“ Autor: Martin Gehlen

Arabische Länder: Immer mehr Christen leiden unter dem Terror

Der Orient erlebe eine regelrechte „christliche Entvölkerung“ Autor: Martin Gehlen

 

Keine friedliche Koexistenz: In vielen islamisch geprägten Ländern leben Christen sehr gefährlich

Amman –  Ab und zu streift sein Blick vom Küchentisch zu dem kleinen Feigenbaum unter seinem Fenster. Mansour Mattosha schenkt dampfenden Tee nach. „Ich habe das ganze Drama mit eigenen Augen gesehen“, sagt er schließlich und stochert in seiner Tasse herum. Zehn Jahre war er Seelsorger an der St.-Bihnam-Kirche in Bagdad, deren Gemeinde heute nicht mehr existiert.

Apokalypse im Zweistromland – die US-Invasion 2003 entfesselte die wohl brutalste Christenverfolgung der jüngeren Geschichte. Im ganzen Land wurden Kirchen angezündet und Klöster verwüstet, christliche Familien bedroht, Väter oder Söhne entführt, Priester ermordet. Jeden Tag habe er Taufzeugnisse ausgestellt – für alle, die nur noch weg wollten.

Inzwischen leben von den einst 1,2 Millionen Christen unter Saddam maximal noch 300.000 im Land. Und der Exodus geht weiter. 60.000 sind allein in der jordanischen Hauptstadt Amman gestrandet, wo seit einem Jahr auch Mansour Mattosha als syrisch-katholischer Pfarrer arbeitet.

Wenn der Geistliche durch die steilen Straßen des Armenbezirks Ashrafiyeh läuft, wo seine kleine Marienkirche steht, kann er fast zu jedem Haus ein Schicksal erzählen. Familie Georgis ist vor vier Monaten gekommen. Vater Adnan, ein Elektriker, wurde im Irak bei einem Kundenbesuch entführt und ist seither verschwunden. „Haut ab“, stand kurz danach an die Haustür gesprüht.

Jetzt wohnen Mutter Awatif und ihre drei erwachsenen Kinder in Amman in einem kleinen Mansardenzimmer. Nachts schlafen alle unter freiem Himmel auf dem Flachdach zwischen den Satellitenschüsseln der Nachbarn. Eine Ecke weiter wohnt ein frisch verheiratetes Paar, dem die muslimischen Peiniger im Irak ihren Getränkeladen zertrümmerten und eine CD mit Morddrohungen unter ihre Haustüre schoben. Zweimal die Woche besucht Pfarrer Mansour die Kranken im Rote-Halbmond-Hospital, dessen 3. Etage voll belegt ist mit irakischen Terroropfern.

Christliche Gruppen

Die chaldäische Kirche führt ihre Gründung zurück auf den Apostel Thomas. Im Jahr 431 kam es wegen dogmatischer Streitigkeiten zum Bruch mit der katholischen Kirche in Rom. Seit dem 17. Jahrhundert sind die chaldäischen Christen wieder mit dem Heiligen Stuhl vereint, allerdings mit eigener Kirchenhierarchie. Oberhaupt der 23 Bischöfe ist der Patriarch von Babylon, Emmanuel III. Delly, der seinen Sitz in Bagdad hat.

Die koptische Kirche geht zurück auf das spätantike Christentum. Als Gründer gilt der Überlieferung nach der Apostel Markus, der angeblich Mitte des 1. Jahrhunderts in Ägypten lebte und erster Bischof von Alexandria war. Die koptische Kirche hat ihren eigenen Papst, den 87-jährigen Shenouda III., mit Sitz in Kairo. Der Anteil der Kopten an der Gesamtbevölkerung wird auf rund 10 Prozent geschätzt. Ihr Verhältnis zu der muslimischen Mehrheit ist seit Jahrzehnten geprägt von Gereiztheiten, latenten Aggressionen und offenen Gewalttaten.

Die Maroniten leben im Libanon. Der Staat bildet mit einem Anteil von 34 Prozent Christen eine absolute Ausnahme in der Region. Im Kontakt mit den Kreuzfahrern stimmten die Maroniten, die im 8. Jahrhundert erstmals ihren eigenen Patriarchen erhielten, 1182 einer Union mit der katholischen Kirche in Rom zu. Die Maroniten distanzieren sich teilweise demonstrativ von ihrer arabischen Umgebung. Laut libanesischer Verfassung haben sie das Recht, den Präsidenten des Landes zu stellen. mge

Aufgerüttelt durch die Tragödie im Zweistromland hat die katholische Kirche zum ersten Mal in ihrer Geschichte ein großes Krisentreffen zum Schicksal ihrer orientalischen Schwesterkirchen einberufen. 150 Patriarchen und Bischöfe kommen vom 10. bis 24. Oktober zu einer Sondersynode nach Rom. In ihrer Unruheregion liegen die Wurzeln des Christentums. Von Ur in Chaldäa, dem heutigen Südirak, machte sich Abraham auf ins Gelobte Land, der wohl berühmteste Migrant der Weltgeschichte. Im palästinensischen Bethlehem wurde Jesus geboren. In Jerusalem ist er am Kreuz gestorben und nach dem Glauben der Christen drei Tage später wieder auferstanden. Und wäre nicht Paulus von Jerusalem aus bis nach Athen gezogen und hätte auf dem Gebiet der heutigen Türkei und Griechenlands die ersten Gemeinden gegründet, wären die Jesus-Anhänger eine kleine jüdische Sekte geblieben.

Heute leben noch 17 Millionen Christen unter den 480 Millionen Muslimen des Nahen und Mittleren Ostens. Sie sind kleine Minderheiten – angefangen von einem Prozent im Iran und in der Türkei, über 2,3 in Israel und 3,5 Prozent in Jordanien bis hin zu rund 10 Prozent in Ägypten. „Die Geschichte hat uns zu einer kleinen Herde gemacht“, sagte Papst Benedikt XVI., als er vor einem Jahr zu dem Kirchentreffen einlud. Das 46-seitige vorbereitende Synodenpapier nennt die Sorgen der Gläubigen deutlich beim Namen. Ob in Ägypten, Libanon, der Türkei oder Iran, überall fühlten sie sich durch das Erstarken des „politischen Islam“ mit seinen „extremistischen Strömungen“ bedroht. Die israelische Besatzung palästinensischer Gebiete behindere Bewegungsfreiheit, wirtschaftliches und religiöses Leben. Im Irak seien die Christen als schwächster Teil der Gesellschaft Hauptopfer der Gewalt.

Der Orient erlebe eine regelrechte „christliche Entvölkerung“, lautet das besorgte Fazit im Vatikan. Eines Tages werde man sich fragen, „ob Jesus wirklich hier war, wenn keine Menschen mehr vor Ort präsent sind, die an ihn glauben“, befürchtet der Patriarch der melkitischen Katholiken, Erzbischof Lufti Laham. „Dann wird das Heilige Land für die Christen zu einem Museum.“ 

Aber auch muslimische Intellektuelle sehen den Exodus mit Sorge. „Je weniger Christen es gibt, desto stärker wird der islamische Fundamentalismus“, prognostiziert Mohammed Sammak, politischer Berater des Großmuftis im Libanon. „Wenn die Christen eines Tages nicht mehr da sind, das ist, wie wenn man aus einem Tuch Fäden herauszieht – am Ende zerfällt das gesamte soziale Gewebe.“ Seit dem Krieg 2006 haben 70.000 Christen den Zedernstaat verlassen – einer Umfrage zufolge gehen die meisten wegen der radikalen Hisbollah.

„Das Schlimmste wäre, wenn die Teilnehmer der Synode lediglich mit schön formulierten Dokumenten zurückkämen“, meint Wael Suleiman, der erst 36-jährige Caritas-Direktor von Jordanien. Er plädiert an die lokalen Kirchen, weniger nach Europa oder Amerika zu schielen und mehr auf die eigenen Kräfte zu bauen. In Jordanien hätten Christen einen Anteil von 3,5 Prozent an der Bevölkerung, besäßen aber ein Drittel der wirtschaftlichen Macht. „Wir sollten das Gleichnis vom barmherzigen Samariter nicht nur predigen, sondern auch leben.“ Das gelte auch für das Verhältnis der jordanischen Christen zu den irakischen Flüchtlingen.

Drohbrief von Al-Kaida

Was Wael Suleiman meint, lässt sich an der chaldäischen Notgemeinde in Ammans Stadtteil Lweibdeh ablesen. Rund 150 Menschen − alt und jung − haben sich am Sonntagabend zum Gebet versammelt. Die Gesichter sind ernst, erschöpft und in sich gekehrt. Ihre aramäischen Gesänge in der Sprache Jesu ähneln der Liturgie in jüdischen Synagogen mehr als den wortreichen Gottesdiensten im Westen. Als Kirchenraum dient das mit einer Garage zusammengelegte Wohnzimmer einer Parterrewohnung. Neben den Eingang hängt ein Drohbrief von Al-Kaida, den jemand aus Bagdad mitgebracht hat.

„Wir gehören zu den ältesten christlichen Gemeinden überhaupt – und heute werden wir als ,Verwandte der Amerikaner‘ beschimpft“, sagt Pfarrer Raymund Moussalli, der aus Mossul stammt. 5000 Menschen gehören zu seiner provisorischen Gemeinde. „Sie haben ihr Leben gerettet – aber was für ein Leben?“ Fast alle können nicht zurück und die meisten können nicht weiter.

Und so fristen sie ihr Dasein in der Fremde − illegal, untergetaucht, irgendwo unterm Dach oder bei Verwandten. An die Synode hat er nur eine Erwartung: „Wir wünschen uns, dass die Kirche in Europa zu unserem Schicksal nicht schweigt. Wir wünschen uns, dass sie kräftig ihre Stimme erhebt und uns hilft, wieder in unser Leben zurückzufinden.“

Quelle: Frankfurter Rundschau

www.fr-online.de/politik/verfolgt-im-heiligen-land