05.11.2019

Libanon: Auch Christen gehen auf die Straße

Evangelikaler Experte: Die Arbeit der christlichen Hilfswerke ist nicht gefährdet

Beirut/Genf (idea) – Seit Mitte Oktober demonstrieren im Libanon Tausende Bürger auf den Straßen. Es sind die heftigsten Proteste seit fast 100 Jahren. Auch Christen sind unter den Demonstranten. Das berichtete der für die Weltweite Evangelische Allianz (WEA) tätige libanesische Menschenrechtsexperte Wissam al-Saliby (Genf) gegenüber der Evangelischen Nachrichtenagentur idea. Bei einigen Demonstrationen in mehrheitlich christlich bewohnten Gebieten hätten die Teilnehmer auch gebetet. Auslöser der Proteste war die Ankündigung der Regierung, neue Steuern zu erheben, etwa auf Anrufe über den Nachrichtendienst WhatsApp. Laut al-Saliby sind die tatsächlichen Gründe für die Demonstrationen jedoch die weit verbreitete Unzufriedenheit über die herrschende Korruption, Misswirtschaft und eine politische Elite, die es in den 30 Jahren seit Ende des Bürgerkriegs nicht geschafft habe, das tägliche Leben der Menschen zu verbessern. „Wegen der prekären wirtschaftliche Lage haben viele kein Geld, ganz normal über das Handy zu telefonieren. Deshalb nutzen sie die kostenlose Variante über WhatsApp“, erklärt der junge Mann die starke Reaktion der Libanesen auf die Ankündigung.

Auch Christen unzufrieden mit der Lage im Libanon

Zur Haltung der Christen sagte al-Saliby: „Wie alle im Land sind wir unzufrieden mit den wirtschaftlichen und sozialen Folgen von Korruption, Misswirtschaft und ‚Kleptokratie‘ – einer Herrschaft der Plünderer.“ Unter den Evangelikalen habe es gerade zu Beginn lebhafte Debatten darüber gegeben, ob man sich anschließen und ob man gegen die Regierung aufbegehren dürfe. Es gebe unter ihnen sowohl Befürworter wie Gegner der Demonstrationen. Beide Seiten argumentierten theologisch.

 

Hilfswerke sind gerade jetzt nötig

Eine mögliche Gefährdung von Mitarbeitern christlicher Hilfsorganisationen, die unter den Flüchtlingen im Land arbeiten, kann al-Saliby nicht erkennen: „Sie sollten gerade jetzt hingehen, denn in diesen Zeiten werden sie gebraucht.“ Angesichts von Straßensperrungen sei aber viel mehr Zeit und Mühe nötig, um von einem Ort zum anderen zu gelangen. Al-Saliby sieht aber derzeit nicht nur Flüchtlinge als Betroffene. Die gesamte Bevölkerung leide: „Durch die Blockaden wurden die Einfuhr und Lieferung wichtiger Güter wie Lebensmittel, Benzin, Medikamente und Trinkwasser reduziert.“ Das erhöhe die Preise deutlich und könne kurzfristig zu Engpässen führen. Al-Saliby zufolge üben die Demonstranten derzeit auf alle Politiker des Landes Druck aus. „Im Libanon haben wir in der Regierung seit Jahrzehnten eine Balance zwischen Christen und Muslimen. Diese hat jedoch nicht nur Vorteile: Sie schwächt den Kampf gegen Korruption.“ Die jeweiligen Lager ständen sich etwa gleich stark gegenüber, und jeder Versuch, etwas zu ändern, könnte als Angriff auf die jeweils andere Religion interpretiert werden. „Deshalb wünschen sich einige Libanesen eine Abschaffung dieses Modells und eine deutlich säkularere Regierung“, so al-Saliby. Es sei nun abzuwarten, ob es die libanesische Regierung schafft, glaubhaft Reformen anzustoßen. Der WEA-Mitarbeiter räumt ein: „Ich glaube jedoch nicht, dass eine einzige Regierung es schafft, alle Probleme auf die Schnelle zu lösen.“ Von den rund sechs Millionen Bewohnern des Libanon sind nach Angaben des Auswärtigen Amtes in Deutschland etwa 1,3 Millionen Flüchtlinge. Rund 60 Prozent sind Muslime und 39 Prozent Christen.