30.08.2023

Pakistan: Pure Zerstörungswut

Zur Erinnerung: Der 16. August wird für Christen in Pakistan als schwarzer Tag in die Geschichte eingehen

 Ein wütender Mob griff das christliche Viertel in der Stadt Jaranwala an. Die Menschenrechtsanwältin und Gründerin der Hilfsorganisation „The Voice Society“, Aneeqa Anthony, besuchte Betroffene vor Ort. Für die Evangelische Nachrichtenagentur

In IDEA berichtet sie von ihren Erlebnissen.

Glasscherben knirschen unter meinen Füßen, als ich durch die Straßen des christlichen Viertels von Jaranwala gehe. Als Christin in Pakistan bin ich einiges gewöhnt. Doch das Ausmaß der Zerstörung macht mich sprachlos: 21 Kirchen unterschiedlichster Konfessionen wurden am 16. August angegriffen, verwüstet, angezündet. Hunderte von religiösen Objekten – darunter Bibeln, christliche Bücher, Bilder und Kreuze – wurden geschändet. Ihre Überreste, kaputte Kirchenbänke und anderes Mobiliar liegen überall auf den Straßen verstreut. Es ist ein erschütterndes Bild, das sich mir bietet. Pure Zerstörungswut.

Vor den Trümmern ihrer Existenz

Die Zerstörung von christlichem Eigentum und auch von Christen selbst war das Ziel dieses Angriffes. Kaum ein Kleidungs- oder Möbelstück blieb verschont, als der wütende Mob von Muslimen durch das Viertel zog. Die Täter brannten fast alles nieder. Als Brandbeschleuniger nutzten sie eine Chemikalie, die so heiß brannte, dass sogar Eisen schmolz. Zurück bleiben rat- und hilflose Menschen vor den Trümmern ihrer Existenz. Jeder einzelne Christ im Viertel sorgt sich um die Sicherheit und die Zukunft seiner Familie und Kinder.

Aufruf zu Gewalt in Moscheen

Als Leiterin einer Menschenrechtsorganisation habe ich Lebensmittel für rund 300 Familien besorgt und verteile sie nun an Betroffene. Ich besuche die Menschen in den qualmenden Trümmern ihrer Häuser und höre mir ihre Nöte an. Die Räume sind kaum begehbar. Der Brandbeschleuniger sitzt in jeder Mauerritze und gibt beißende Dämpfe ab.

Zu den Betroffenen gehört auch Shehnaz Bibi. Die 52-Jährige wohnt mit ihrem Mann und ihren drei Kindern neben der katholischen Kirche. Sowohl das Gotteshaus als auch das Wohnhaus der Familie wurden schwer beschädigt. Shehnaz berichtet mir, dass vor dem Angriff über die Lautsprecher der umliegenden Moscheen zur Verteidigung der Ehre des Korans aufgerufen wurde. Shehnaz: „Als die Angreifer kamen, herrschte Chaos. Alle Christen rannten panisch aus ihren Häusern. Wer Verwandte in der Nähe hat, flüchtete zu ihnen. Viele rannten raus auf die Felder. Auch wir. Später kamen wir bei Verwandten in der 40 Minuten entfernten Stadt Faisalabad unter. Es ist ein schweres Trauma für uns. Unsere Häuser brannten. Wir haben unsere Kirchen und unser Viertel nicht wiedererkannt.“

Vorwand für Racheakt

Von den etwa 150 Häusern im christlichen Viertel wurden rund 100 zerstört. Wie durch ein Wunder gab es keine Todesopfer – möglicherweise weil die Christen schnell geflohen sind. Auslöser der Gewaltexzesse waren Blasphemievorwürfe gegen drei Christen. Einige Muslime hatten behauptet, sie hätten den Christen Raja Amir Masih, dessen Bruder Rocky und Vater Saleem dabei beobachtet, wie sie Seiten aus einem Koran gerissen und geschändet hätten. Ich glaube, dass es sich nur um einen Vorwand für einen Racheakt handelt. Nur wenige Wochen zuvor hatten radikale Muslime als Reaktion auf die Koranverbrennungen in Schweden wiederholt zu Anschlägen auf Christen in Pakistan aufgerufen. Nach den Angriffen in Jaranwala riefen Muslime überall im Land zu ähnlichen Pogromen in weiteren Städten auf. Vielerorts wurde die Polizeipräsenz erhöht.

Zweifel an Versprechungen

Die Polizei trat dem Mob in Jaranwala anfangs nur zögerlich entgegen. Das erklärt das Ausmaß der Zerstörung. Offiziell sollen mittlerweile die drei Christen und rund 100 der Angreifer in Haft sitzen. Die Regierung kündigte den Aufbau der zerstörten Häuser und die Entschädigung der Opfer an. Als christliche Menschenrechtsanwältin habe ich große Zweifel daran, dass dies je passieren wird. Zu oft erlebe ich die Ungerechtigkeit der Behörden gegen Christen, denen Gotteslästerung vorgeworfen wird. Nur zu oft wird der Blasphemievorwurf für Racheakte gegen unschuldige Christen missbraucht – ohne dass staatliche Stellen einschreiten. Nicht selten sympathisieren sie insgeheim mit den Tätern oder haben schlicht Angst vor Konsequenzen für sich selbst.

 

„Es ist genug!“

Ich setze mich entschlossen für die Rechte aller Christen und Verfolgten unabhängig von ihrem Glauben ein und werde weiterhin für eine Welt eintreten, in der jeder seinen Glauben frei und ohne Angst ausüben kann. Der jüngste Vorfall in Jaranwala zeigte einmal mehr, dass Christen auch 75 Jahre nach der Staatsgründung Pakistans immer noch als Bürger zweiter Klasse angesehen werden. Viele Christen arbeiten in wichtigen Lebensbereichen wie Bildung oder Gesundheit. Dennoch hat der Staat bei den jüngsten Ereignissen einmal mehr darin versagt, diese hart arbeitende Minderheit zu schützen. Von entscheidender Bedeutung wäre nun eine gründliche und unparteiische Untersuchung der Vorfälle, um die Täter vor Gericht zu stellen. Damit würde die Regierung ein deutliches Zeichen setzen, dass solche Akte der religiösen Intoleranz in einer gerechten und integrativen Gesellschaft nicht geduldet werden. Es ist an der Zeit, dass wir alle aufstehen und sagen: „Es ist genug!“

Wer ist Aneeqa Anthony?

Die 42-jährige Aneeqa Anthony arbeitete als Strafverteidigerin am Lahore High Court. Die Menschenrechtsanwältin ist Leiterin der Kinderhilfs- und Menschenrechtsorganisation „The Voice Society“ in Lahore. Sie ist verheiratet und hat zwei Kinder. Laut der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM) ist sie mehreren Anschlägen auf ihr Leben nur knapp entkommen. Anfang Dezember 2015 verbreiteten Islamisten in Lahore eine Fatwa (islamisches Rechtsgutachten) gegen Anthony. Darin riefen sie dazu auf, Anthony und alle, die ihr helfen, zu töten. Auch ihre Familie und ihre Kinder wurden von Extremisten mit dem Tod bedroht. Sie musste mit ihrer Familie zeitweise untertauchen.

Glaube in Pakistan

Von den rund 230 Millionen Einwohnern Pakistans sind 96 Prozent Muslime, zwei Prozent Christen und ein Prozent Hindus.