28.11.2023

Israel: Ein Land im Krieg

Die Massaker durch Hamas-Terroristen am 7. Oktober haben Israel schwer getroffen. Doch das Land zeigt sich wehrhaft. Beobachtungen aus einem verwundeten Land von IDEA-Reporter Karsten Huhn

(IDEA) Mit Raketenangriffen mussten die Bewohner von Netiv Haasara schon immer rechnen. Das Dorf mit 950 Einwohnern liegt nur 400 Meter entfernt von der gewaltigen weißen Sperrmauer, die Israel und den Gazastreifen trennt. Wenn die Sirenen wieder Raketenalarm anzeigten, versteckten sich die Anwohner von Netiv Haasara in Schutzräumen, warteten dort das Ende des Alarms ab und kehrten danach wieder zu ihrer Arbeit zurück. Das Leben hier sei zu „95 % Himmel und 5 % Hölle“ gewesen, sagt Hila Fenlon. Die 46-Jährige ist Mutter von zwei Kindern und betrieb in Netiv Haasara eine Landwirtschaft. Seit dem 7. Oktober, dem Tag, den in Israel alle den „Schwarzen Sabbat“ nennen, gibt es in Netiv Haasara keinen Alltag mehr. Alle Einwohner wurden evakuiert; das Dorf ist jetzt Teil einer militärischen Sperrzone.

Für einen Tag ist Fenlon in ihre Heimat zurückgekehrt und führt durch das Geisterdorf. Es hat ein kleines Freibad, einen Fußballund zwei Tennisplätze. In den Vorgärten stehen Trampoline. Fenlon berichtet, wie sie in den Morgenstunden des 7. Oktobers von dem Überfall überrascht wurde und sich im Sicherheitsraum ihres Hauses versteckte. 35 Hamas-Terroristen drangen in das Dorf ein, einige kamen mit Autos, andere mit Gleitschirmen. Sie gingen von Haus zu Haus und töteten so viele Menschen wie möglich. Die Einwohner konnten sich nicht gegenseitig warnen. Strom und Internet waren unterbrochen – vermutlich ein Cyberangriff, der den Überfall begleitete. Einige Einwohner besaßen Waffen und schossen zurück, andere versteckten sich in den Sicherheitsräumen ihrer Häuser. Erst nach sechs Stunden traf die israelische Armee in Netiv Haasara ein.

Fenlon geht von Haus zu Haus und erzählt die Geschichten ihrer Nachbarn. „Wir hatten Glück“, sagt sie. „In unserem Dorf wurden nur 20 Menschen getötet.“ Sie erzählt vom stundenlangen Warten auf die Armee, vom Durst, davon, wie die Luft im Schutzraum knapp wurde, von Schwerverletzten, die in ihrem Blut liegend auf Rettung warteten, und von denen, für die es an diesem Tag kein Wunder gab. Fenlon zeigt auf ein von einer Rakete zerstörtes Haus. Das Ehepaar, das darin wohnte, verbrannte. Aus dem Gazastreifen hört man Detonationen.

Nur wenige Kilometer weiter kämpfen israelische Soldaten gegen die Hamas. „Das ist der Sound von Israels Antwort“, sagt Fenlon. Werden die Bewohner von Netiv Haasara in ihr Dorf zurückkehren? „Die einen wollen zurück, die anderen wollen nie wieder hier leben“, sagt sie. „Die meisten wollen abwarten, bis der Ort wieder sicher ist.“ Und sie selbst? „Morgen“, sagt sie. „Sobald es erlaubt ist.“

Ein unterirdisches Krankenhaus

15 Kilometer nördlich von Netiv Haasara befindet sich die 130.000-Einwohner-Stadt Aschkelon. Ins dortige Barzilai-Krankenhaus wurden die bei dem Massaker Verletzten gebracht und notoperiert. Vor allem Schusswunden mussten die Chirurgen behandeln. Zu den Patienten gehörte auch ein verletzter Hamas-Terrorist. In Friedenszeiten hat das Krankenhaus Betten für 600 Patienten. Nach dem Massaker hat die Klinik Lagerfläche – zwei Etagen unter der Erde – geräumt und dort 250 Betten aufgestellt. Das unterirdische Notkrankenhaus ist sicher vor Raketenangriffen. Die Betten stehen auf engstem Raum und sind nur durch Vorhänge getrennt. Es ist unruhig in dem riesigen Raum. Patienten werden durch die Gänge geschoben, Geräte piepen, Telefone klingeln.

„So viele Patienten hat unser Krankenhaus noch nie behandelt“, erzählt die stellvertretende Direktorin des Krankenhauses, Gili Givati. Um Platz für Verwundete zu schaffen, wurden andere Patienten früher entlassen. Zugleich muss die Klinik mit weniger Personal auskommen: Einige Ärzte wurden als Reservisten der israelischen Armee eingezogen, andere brauchen selbst Hilfe und sind arbeitsunfähig, weil sie Angehörige verloren haben. Mehrfach wurde das Krankenhaus von Raketen getroffen. Die erste traf den Verbindungsgang zwischen zwei Gebäuden, die zweite das Entwicklungszentrum für Kinder. Erst kurz zuvor war das Zentrum evakuiert worden, so dass es weder Verletzte noch Tote gab.

200.000 Menschen evakuiert

Raketenbeschuss gehört für Israelis zum Alltag. Seit dem 7. Oktober hat die Hamas mehr als 8.000 Raketen auf Israel abgefeuert. Die meisten können durch Israels Raketenabwehrsystem „Iron Dome“ („Eiserne Kuppel“) abgefangen werden. Das vollautomatische Radarsystem erkennt den Start einer gegnerischen Rakete, berechnet deren Flugbahn und bestimmt den Einschlagpunkt. Manuell kann Israels Landesverteidigung dann eine Abfangrakete starten. Experten rechnen mit einer Erfolgsquote von etwa 90 %. Israels eiserner Schutz kann also die meisten Einschläge verhindern. Dennoch kommen viele Raketen durch – oft mit Todesfolge.

 

Besonders betroffen sind nicht nur die Städte und Dörfer im Süden Israels, die nah am Gazastreifen liegen. Betroffen ist auch Israels nördliche Grenzregion, die unter dem Raketenbeschuss der libanesischen Terrormiliz Hisbollah leidet. Israels Regierung hat deshalb etwa 200.000 Menschen evakuiert, die nun im Landesinneren untergebracht sind. Wegen des Zweifrontenkrieges gibt es derzeit so gut wie keine Touristen mehr in Israel. Die Hotels sind dennoch nahezu ausgebucht. Sie beherbergen jetzt vor allem Evakuierte, die nicht wissen, wann sie in ihre Heimat zurückkönnen.

Sie sah, wie ihre Freunde getötet wurden

Fast jeder Israeli ist persönlich betroffen. Manche Erlebnisse sind so brutal, dass man sie eigentlich nicht aufschreiben möchte. Zum Beispiel die von Mira Zoë Geller. Die 40-Jährige arbeitet als Köchin in einem Hotel, in einem Vorort von Jerusalem. Sie wollte an diesem Tag zum mehrtägigen Supernova-Festival bei Re‘im aufbrechen, etwa fünf Kilometer vom Gazastreifen entfernt. Ihre Freunde feierten dort bereits. Gegen sieben Uhr am Morgen erhielt sie einen Videoanruf ihrer Freundin. Die Freundin schrie ins Telefon: „Sie schießen auf uns! Sie töten uns!“ Dann ließ die Freundin das Telefon auf den Boden fallen, die Videoübertragung lief weiter. „Ich wollte am liebsten ausschalten, aber ich konnte auch nicht wegsehen.“ Geller sah und hörte, wie ihre Freunde von Hamas-Terroristen verstümmelt und getötet wurden. „Sie schnitten alles ab, was man abschneiden konnte.“

364 Menschen wurden bei dem Musikfestival ermordet. Die Schreie ihrer acht Freunde verfolgen Geller bis heute. Wie verarbeitet sie diesen Horror? Geller stürzte sich in die Arbeit („Ich habe mir den Hintern weggekocht“), sie hat eine Traumatherapie begonnen und nimmt Schlaftabletten, um irgendwie Ruhe zu finden. „Keiner schläft richtig, der das erlebt hat“, sagt sie.

„Es wird noch viele Tote geben“

Nach dem Massaker setzt Israel auf seine Armee. Sie soll die Hamas vernichten. Einen Einblick in Israels militärische Überzeugungen gibt Giora Eiland. Der ehemalige israelische Generalmajor und Leiter des Nationalen Sicherheitsrates nahm 1973 am Jom-Kippur-Krieg teil. 1976 war er an der Befreiung jüdischer Geiseln nach einer Flugzeugentführung in Entebbe (Uganda) beteiligt, 1982 kämpfte er im Libanonkrieg. Der 71-Jährige hält nichts davon, zwischen der Terrororganisation Hamas und unschuldiger palästinensischer Zivilbevölkerung zu unterscheiden. Das Volk habe die Hamas gewählt, und selbst heute stünden etwa 80 % der Palästinenser loyal zu ihr. Die Situation sei vergleichbar mit den 1930er Jahren, als die Nationalsozialisten auf die Unterstützung des deutschen Volkes bauen konnten: „Die Bevölkerung in Gaza hat das Leid auf sich selbst gebracht“, sagt Eiland. „Sie haben die Hamas gewählt und unterstützt.“

Etwa 10.000 Palästinenser sind seit dem 7. Oktober ums Leben gekommen, darunter etwa 3.000 Hamas-Kämpfer. Begeht Israel im Gazastreifen Kriegsverbrechen? „Wir wollen keine Zivilisten töten“, sagt Eiland. „Wir treffen militärische Ziele. Aber diese sind voll mit Zivilisten.“ Die Hamas nutze Zivilisten als menschliche Schutzschilde. „Erzählt uns nichts von humanitären Problemen, solange ein zehn Monate altes Baby als Geisel gefangen gehalten wird.“

Etwa 30.000 Männer kämpfen für die Hamas. Israels Armee hat 173.000 Soldaten, dazu kommen etwa 465.000 Reservisten. „Wir werden siegen“, sagt Eiland. „Wir haben auch keine andere Möglichkeit.“ Trotz der militärischen Überlegenheit rechnet er nicht mit einem schnellen Ende des Krieges: „Wenn die Hamas nicht aufgibt, wird es noch viele Tote geben.“

Die Freilassung der Geiseln

Das Thema, das Israel am meisten bewegt, ist das Schicksal der etwa 240 von der Hamas entführten Menschen. Die Porträts der Geiseln sind allgegenwärtig. Man sieht sie am Flughafen in Tel Aviv, in Schaufenstern von Geschäften, auf Plakatwänden und auf Videobildschirmen, auf denen sonst Werbung für Autos und Parfüm zu sehen ist. Nur wenige Stunden nach dem Massaker hat sich die Initiative #BringThemHomeNow („Bringt sie nach Hause“) gegründet. Ihren Sitz hat sie im sechsten Stock eines Bürohauses in Tel Avivs Innenstadt. Das Unternehmen Checkpoint, eine Firma für Sicherheitslösungen im Internet, hat eine Etage zur Verfügung gestellt. Auch hier hängen überall die Fotos der Vermissten. Experten für Öffentlichkeitsarbeit, Werbung und Soziale Medien arbeiten hier zusammen mit Rechtsanwälten und Diplomaten, um die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit zu gewinnen, Druck auszuüben und die Freilassung der Geiseln zu erreichen. Zudem stehen Psychologen den betroffenen Familien zur Verfügung.

Lior Katz erzählt die Geschichte ihrer Familie. Mit ihrem Mann wohnte sie im Kibbuz Nir Oz, etwa zwei Kilometer vom Gazastreifen entfernt. Ihre Mutter und deren Partnern wurde von Terroristen getötet. Vor Katz liegen vier Porträttafeln mit Fotos ihrer Familie. Sie zeigen ihren Bruder Ravid Katz, ihre Schwester Doron Katz und deren Kinder Raz und Aviv, 4 und 2 Jahre alt. Alle vier wurden von der Hamas entführt. 70 Menschen in dem Kibbuz wurden verschleppt, 30 ermordet – jeder Vierte der Siedlung. Auf einem von der Hamas veröffentlichten Video entdeckte Lior Katz ihre Schwester und deren Kinder auf der Ladefläche eines Trucks. „Ich konnte die Angst in ihren Augen sehen“, sagt Katz. Sie sieht unendlich traurig und müde aus, als sie von ihrer Familie erzählt. Sie kann kaum schlafen, kaum essen.

Mehr als sechs Wochen befinden sich die Geiseln schon in Gefangenschaft, und von Tag zu Tag wird es schwerer, die Hoffnung auf ein Wiedersehen aufrechtzuerhalten. Doch vier Tage später gibt es für Lior Katz eine gute Nachricht: Ihre Schwester und deren zwei Kinder gehören zu den ersten Entführten, die freigelassen werden. Ihr Bruder jedoch befindet sich weiter in Geiselhaft.

 

58 Menschen, darunter acht deutsche Doppelstaatsbürger, wurden inzwischen freigelassen. Rund 180 Geiseln befinden sich weiter in den Händen der Hamas. (Stand bei Redaktionsschluss: 27. November, 18 Uhr)